Des Blättchens 8. Jahrgang (VIII), Berlin, 29. August 2005, Heft 18

Arethusa

von Renate Hoffmann

Ein klangvoller Name, geht es mir durch den Sinn. Ich schlendere auf der Alfeo-Seepromenade; zur Rechten das Ionische Meer, zur Linken die Fontana Aretusa. Süßwasserquelle der Insel Ortygia. Stadtteil von Syrakus. Sizilianischer Südosten.
Der sprudelnde Urquell liegt verborgen in einer Grotte, ergießt sich, befreit, ans Tageslicht. Und kräuselt kokett den papyrusbestandenen, blaugrünen Quellteich. Ihn umschließt eine hohe Balustrade. Junge Leute beugen sich darüber. Reisende richten ihre Kamera auf das Wasserauge dort unten, das sich gefällig mit blühenden Büschen schmückt. Seine kleinen Wellen plätschern an der eleganten Teichtreppe.
Einem feinen Gespinst gleich liegt die Geschichte der Nymphe Arethusa über dem schönen Ort. Eine Tafel erzählt den Hergang. Eine Bronzeskulptur ergänzt ihn – als Bild ohne Worte: Die zierliche Nymphe, einstens Dianens Gefährtin, flieht; Alpheios, der Begehrliche, jagt der Begehrten nach. Fast schon berührt er sie. Man hört beider Atem, sieht die fliegende Hast, errät das Ende.
Als der europäische Fernwanderer Johann Gottfried Seume (1763-1810) im Frühjahr 1802 Syrakus erreichte, befand er: »In dem alten Inselchen Ortygia ist jetzt nichts merkwürdiges mehr, als der alte Minerventempel (der syrakusanische Dom, d. A.) und die Arethuse … Jetzt sitze ich hier und lese den Theokrit.« Ich sitze auf der kleinen Terrasse und lese den Ovid (43 v.u.Z.-um 18 u.Z.). Aug’ in Auge mit dem seltsamen Gewässer, dessen grazile Herrin, traut man Plutarch, noch weben und leben mußte. Der griechische Autor kennt nämlich das Durchschnittsalter von Quellnymphen. Es beträgt etwa neuntausendsechshundertundzwanzig Jahre. Ovid läßt in seinen Verwandlungen, den Metamorphosen, Arethusa selbst berichten, was geschah. Erregend, sinnlich, länderübergreifend. Und gewählt in Worte gesetzt.
»Eine der Nymphen Achaias’ (Landschaft im Norden der Peloponnes, d.A.) bin ich gewesen«, so beginnt sie. »Niemals durchstreift’ eine andre mit größerem Eifer die Wälder, / Niemals stellt’ eine andre mit größerem Eifer die Netze. / Aber obschon ich nie nach der Ehre der Schönheit getrachtet, / Ob ich auch stark nur war, man nannte mich dennoch die Schöne …« Diese Schöne, von der Sommerhitze ermüdet, gelangt an einen Fluß, mit »sanft sich neigenden Ufern«. Die willkommene Abkühlung. Zuerst hinauf bis zum Knie. »Damit nicht zufrieden, entgürt’ ich mich … Dann tauche ich nackt in das Wasser; ich plätschere, schlürfe, / Gleite auf tausend Arten und schüttle und breite die Arme …« Gemurmel und der Ruf ihres Namens aus der Tiefe. Sie hat den Flußgott Alpheios betört. Erschreckt stürzt die Nymphe ans Ufer. »Der Wilde« folgt ihr. Arethusa läuft – ohne Gewand – auf und davon. »Er drängt und glüht um so heißer«. Die Flinkfüßige hört ihn näherkommen, spürt seinen Atem. »Zu Hilfe, Diana, hilf deiner Gesellin!«
Da senkt sich eine Wolke über die Erschöpfte. Der Schlaukopf Alpheios sieht zwar, daß er nichts mehr sieht, jedoch auch, daß Fußspuren in das Dunstgebilde hinein-, aber nicht herausführen. Belagerungszustand. Und jetzt wird metamorphiert. Mehrfach.
Arethusa zerfließt in quellfrisches Wasser. Exakt gesprochen: in Süßwasser. Die griechische Erde öffnet sich, nimmt die so Verwandelte auf, und entläßt sie wieder als muntere Quelle auf sizilianischem Boden. Der verliebte Tor Alpheios metamorphiert aus der angenommenen männlichen Gestalt zurück in die wässerige Form und flutet durch das Ionische Meer, seiner Angebeteten folgend. Nunmehr kann er sich mühelos mit ihr vereinen. Wasser zu Wasser.
Die Syrakusaner verehrten die stadteigene Quellnymphe. War sie doch Garantin für das benötigte Trinkwasser – und voller Liebreiz obendrein. Ihr ebenmäßiges Profil ziert antike Münzen. Klare, edle Züge unter aufgestecktem welligen Haar. Sie trägt Ohr- und Halsschmuck. Wassergetier umspielt sie. Und ein keckes Löckchen löst sich aus ihrer Frisur. Man versteht Alpheios’ Begehrlichkeit.
Johann Gottfried Seume verweilt längere Zeit an der Fontana Aretusa. Nicht nur, um den Theokrit zu lesen. Er steigt zur Anmutigen »so tief als möglich hinunter, schöpft mit der hohlen Hand« … und urteilt: »man kann zwar das Wasser trinken, aber süß kann man es wohl kaum nennen; es schmeckt noch immer etwas brackisch«.
Im Spaziergang nach Syrakus im Jahre 1802 beschreibt der Fußreisende Seume Merkwürdigkeiten der Arethusa-Quelle, die man ihm zutrug. Sie färbe sich zuweilen rot. Auch bestünde eine unterirdische Verbindung zwischen ihr und Alpheios, dem größten Fluß der Peloponnes. Diese Annahme läßt sich auf erotischer Ebene plausibel erklären. Denn Ovids Liebesgeschichte hatte sich längst herumgesprochen. Zudem besitze das Arethusa-Wasser hygienischen Nutzen. Es vertreibe Sommersprossen! (Beweis vorderhand nicht möglich.)
Alle Eindrücke bündelnd, gibt Seume zu Papier: »Diese Quelle ist, wenn man auch mit keiner Silbe an die alte Fabel denkt, bis heute noch eine der schönsten und sonderbarsten, die es vielleicht gibt.« Vom Terrassenplatz schaue ich hinab auf das von der Mittagssonne berührte Nymphengeheimnis – und teile die Meinung.