von Wolfram Adolphi
Sie haben sie wirklich little boy genannt, die US-Militärs: die erste Atombombe, die sie vor sechzig Jahren, am 6. August 1945, über der japanischen Stadt Hiroshima gezündet haben. Die zweite, die sie drei Tage später, am 9. August, über Nagasaki folgen ließen, war größer und schwerer, und für sie hatten sie sich den Namen fat man ausgedacht. 67000 Menschenleben forderten little boy und fat man – der »kleine Junge« und der »fette Mann« – binnen von Sekunden, weitere 134000 in den folgenden vier Monaten, noch viele Jahre später starben Tausende an der Strahlenkrankheit, und bis heute, da es schon um die Generation der Enkel geht, ist das Leiden nicht beendet. Niemand weiß, mit welchen Erbschäden noch gerechnet werden muß.
Die Fakten der grausigen Tage von Hiroshima und Nagasaki sind oft benannt worden. Rund 280000 Einwohner hatte Hiroshima im August 1945, dazu kamen 43000 Militärangehörige und um die 20000 koreanische und chinesische Zwangsarbeiter sowie US-amerikanische Kriegsgefangene. Über ihnen allen brach in einem einzigen Augenblick die Hölle los. In einem Umkreis von einem Kilometer Durchmesser um das Hypozentrum – jenen Punkt auf der Erdoberfläche, der direkt unterhalb der Explosion liegt – starben auf einen Schlag neunzig Prozent aller dort wohnenden, arbeitenden oder auf dem Weg zur Arbeit, zur Schule oder zum Markt sich befindenden Menschen. Die Temperatur am Hypozentrum betrug eine Sekunde lang 3000 bis 4000 Grad Celsius. Eine ungeheure Druckwelle, die auch noch vierzig Kilometer vom Hypozentrum entfernt wahrgenommen wurde, zerstörte in einem Umkreis von zwei Kilometern vollständig alle Gebäude, und noch in einem Umkreis von zehn Kilometern Durchmesser wurden zwei Drittel aller Gebäude zerstört oder schwer beschädigt. Auf die Druckwelle folgten Feuerstürme mit Windgeschwindigkeiten bis zu 250 Kilometer pro Stunde – das ist das Doppelte schwerer Orkane – und mit Bodentemperaturen von über 1000 Grad Celsius. Die Fotos der zerstörten Stadt zeigen mit aller unerbittlichen Schärfe, was diese Zahlen bedeuten. Soweit das Auge der Kamera reicht, ist von den Zehntausenden landestypischen Holzhäusern nur ein Aschefeld geblieben – unter sich bergend Zehntausende ebenfalls zu Asche verbrannter Frauen und Männer, Kinder und Greise. In Nagasaki, wo um die 250000 Menschen lebten, das gleiche Bild.
Mit welch unglaublicher »Effizienz« wurde dieses Zerstörungswerk besorgt: Nicht hunderte Flugzeuge waren auf den Weg zu bringen gewesen mit zehntausenden Bomben, sondern ein einziges Flugzeug reichte aus, um little boy – drei Meter lang, 0,7 Meter Durchmesser und drei Tonnen schwer – ans Ziel zu tragen, und bei fat man – 4,5 Meter lang, 1,5 Meter Durchmesser und 4,5 Tonnen schwer – war es nicht anders.
Es ist ein Glück und wohl auch ein Wunder, daß es seit dem August 1945 nicht zu weiteren Atombombenabwürfen gekommen ist. Aber nicht den geringsten Grund gibt es anzunehmen, dies würde – gewissermaßen »von selbst« – immer so bleiben. Denn die Gefahr ist eine dreifache:
Da sind erstens die 30000 Atomsprengköpfe, die weltweit existieren – jeder mit einer Zerstörungskraft, die die von little boy und fat man weit übertrifft. Über die weitaus meisten dieser Sprengköpfe verfügen die USA und Rußland, nur ein Bruchteil des Gesamtbestandes liegt in den Händen von Frankreich, Großbritannien und China. Allein die Existenz dieser Waffen ist – zunächst einmal fernab jeder Kriegssituation – eine ungeheure Bedrohung. Denn die Geschichte der vergangenen Jahrzehnte kennt bereits eine ganze Kette von dramatischen Momenten, in denen Computerfehler und falsche Lagebeurteilungen die Menschheit an den Rand eines Nuklearkrieges gebracht haben.
Da ist zweitens die Tatsache, daß seit dem Ende der Systemkonfrontation 1989/90 die Zahl der Kriege nicht ab-, sondern zugenommen hat. Und es war nun einmal – das Jahr 1945 liefert dafür den nachdrücklichen Beweis – der Krieg, der nicht nur den Antrieb geliefert hat für die Konzentration der Wirtschafts- und Wissenschaftskraft auf die Herstellung der Bombe, sondern auch alle Skrupel hat schwinden lassen, was deren massenmörderischen Einsatz betrifft. Es ist die schreckliche Spirale der Gewalt, an die hier erinnert werden muß: 1936 hatten sich Deutschland und Japan im Kampf um die Neuaufteilung der Welt miteinander verbündet, am 7. Juli 1937 hatte Japan mit der umfassenden Eroberung Chinas begonnen; am 1. September 1939 hatte Deutschland mit dem Überfall auf Polen den Krieg in Europa begonnen, bis Mitte 1940 West- und Nordeuropa unter seine Gewalt gebracht, am 22. Juni 1941 den Krieg in die Sowjetunion getragen; am 8. Dezember 1941 hatte Japan mit dem Überfall auf Pearl Harbor die USA in den Krieg gezogen – und dann schlugen die Überfallenen zurück. Man wird noch lange darüber streiten, ob bei diesem Zurückschlagen der Einsatz der Atombomben im August 1945 »militärisch notwendig« war. Aber was ist in einem solchen Krieg schon »militärisch notwendig«? Das Massaker, das die Japaner im Dezember 1937 im chinesischen Nanking anrichteten und bei dem sie 250000 unbewaffnete Soldaten, Frauen und Kinder umbrachten? Die Massenmorde, die die Deutschen in Warschau und Kiew verübten? Die Aushungerung der Leningrader Bevölkerung durch die deutschen Belagerer? Gewiß war es eine zweckbestimmte, die Notwendigkeit des Atombombeneinsatzes herbeibeschwörende Argumentation, wenn US-Präsident Harry Truman im Frühsommer 1945 damit rechnete, bei der Landung an den japanischen Küsten ohne den vorhergehenden Kernwaffenschlag 500000 Soldaten zu verlieren. Das wären doppelt so viele Opfer gewesen, wie sie sein Land mit der Eröffnung der zweiten Front in Europa erbracht hatte – und dies, obwohl doch die Hauptkräfte der japanischen Armee gar nicht in Japan standen, sondern sich auf dem chinesischen Festland festgesetzt hatten (wo ihnen dann von sowjetischen Truppen der alles entscheidende Schlag zugefügt wurde). Aber noch einmal: Es war der Krieg in seiner Gesamtheit, der solches Denken zeugte.
Und: Es war das Denken in Kriegskategorien auch für die Zukunft. Die Atombombenabwürfe – vom US-Militär genau zu diesem Zweck zunächst fotografisch, dann auch medizinisch unter bis heute gültiger strengster Geheimhaltung peinlich genau dokumentiert – zielten auf künftige Kriege mindestens ebenso stark wie auf den noch im Gang befindlichen. Ein Monopol sollte errichtet werden: ein unantastbares Potential der Überlegenheit, zur Druckausübung und Erpressung.
Es ist dieses Monopol sehr schnell gebrochen worden, und es wird ein ähnliches nie geben, und damit ist die dritte der Gefahren genannt: Sie liegt nicht nur in denkbaren Kriegen allgemein, sondern insbesondere im »Krieg gegen den Terrorismus«. Es ist ein offenes Geheimnis, daß auch Atomwaffen künftig so klein sein könnten, daß man sie in Rucksäcken verstauen kann. Dann haben wir es wirklich und wahrhaftig mit little boy zu tun. Die Ächtung von beidem – von Atomwaffen und Krieg – muß solcher Entwicklung Einhalt gebieten.
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