Des Blättchens 8. Jahrgang (VIII), Berlin, 4. Juli 2005, Heft 14

Ich Nichtwähler

von Uwe Stelbrink

Wenn sich die Tendenz fortsetzt, gehöre ich als Nichtwähler bald dauerhaft zum größten Teil der wahlberechtigten Bevölkerung. Da die Meinung der Nichtwähler nie erforscht wird, muß ich mir gefallen lassen, daß mir Demoskopen, Parteienforscher und andere Vertreter nicht exakter Wissenschaften beständig Haltungen und Absichten zuordnen, die wenig schmeichelhaft sind. Freilich nicht unmittelbar vor anstehenden Wahlen, da werde ich regelmäßig zu »unausgeschöpftem Potential« oder der »Weiß nicht«-Rubrik bei Meinungsumfragen zugeordnet.
Ich lebe damit, daß mir Nichtwähler ständig ins Gewissen geredet wird – von Parteien, ihren Politikern, Mitgliedern und Wählern, von allerlei Gutmenschen und Christiansen-Illner-Maischberger-Gästen: Wer nicht wählt, verzichtet auf sein verfassungsmäßiges Grundrecht, die Geschicke dieses Landes und damit sein eigenes mitzubestimmen. Wer nicht wählt, muß zwangsläufig damit leben, daß er immer von denen regiert wird, die er nicht haben wollte. Wer nicht wählt, stärkt die Ränder der Gesellschaft. Überhaupt: Wer nicht wählt, gibt zu erkennen, daß er eben irgendwie nicht dazu gehört. Und er verhält sich höchst unpolitisch.
Wenn ich ehrlich bin, können wir Nichtwähler dem nichts Ernsthaftes entgegenhalten, und wir müßten uns schon deshalb auf der Straße an unseren schamgeröteten Ohren erkennen.
In der Tat verzichte ich auf ein verfassungsmäßiges Grundrecht (wobei »verfassungsmäßig« einen Euphemismus sondergleichen darstellt, denn über die dafür notwendige, vom Volke nach Befragung mehrheitlich angenommene Verfassung verfügen wir Deutschen ja nicht, wir müssen mit einem »Grundgesetz« vorlieb nehmen – es wird schon seinen Grund haben, weshalb wir nur ein Gesetz und keine Verfassung haben dürfen).
Nichtwähler sind naive Menschen: Ich verbinde mit dem Wort »Wahl« immer noch die alberne Vorstellung, zwischen verschiedenen Dingen auswählen zu können. Die mir gebotene freie Auswahl in Deutschland beschränkt sich aber auf mehrere Spielarten der gleichen Melodei und – im besten Falle – auf Abmilderungsangebote für die schrillsten Töne.
Für gänzlich andere Töne sind wir Deutschen nicht reif, wissen alle, auch die Linken, die diese Schlußfolgerung aus ihren Wahlergebnissen ziehen. Und nicht etwa aus ihren Regierungsbeteiligungen wie in Berlin.
Da komme ich mir halt vor wie an der Losbude auf dem Jahrmarkt, wenn man »Freie Auswahl« gezogen hat – man zeigt seinen Hauptgewinnzettel vor, der Gong wird gerührt, und ein schnarrendes Megaphon kreischt allen in die Hörmuscheln, daß wir nun die Freie Wahl haben – und der Flüstertütenträger weist auf verschiedene Plüschzombies, die sich einzig in ihrer Häßlichkeit gleich sind. Da verliert so ein Nichtwähler die Lust, in die Lostrommel zu langen und für dieses Vergnügen auch noch aus eigener Tasche zu zahlen.
Außerdem nehme ich als Nichtwähler in der Tat in Kauf, von irgend jemandem regiert zu werden. Die Unterschiede, die ich dabei bisher auf Bundes- oder Landesebene wahrnehmen konnte, waren kaum auszumachen. Das Tempo, mit dem meine Lebensungewißheiten angewachsen sind, ist unter Schwarz-Gelb und Rot-Grün im Bund genauso zuverlässig gesteigert worden wie unter Schwarz-Gelb und Rot-Rot in Berlin. Es ist halt wie beim Telefonieren: Wenn man sich mehrfach verwählt hat, legt man irgendwann entnervt auf.
Wenn man mir Nichtwähler überzeugend erklären könnte, was die »Ränder der Gesellschaft« sind, die ich mit meinem schändlichen Tun beziehungsweise Nicht-Tun stärke, würde ich mich ja vielleicht erweichen lassen. Die immer wieder beschworenen linken und rechten Ränder wollen ja selber auch gewählt werden, um die kann es also nicht gehen. Und die Leute, die in dieser Gesellschaft entweder ständig einen großen Rand haben oder den Rand nicht voll kriegen können, die gehören doch wohl eher wahlweise zur Alten oder Neuen Mitte. Oder bin ich als Nichtwähler selbst der Rand ? Dann müßte ich mich wählen.
Wahrscheinlich ist es so: Die Ränder sind immer die anderen. Und ich soll ja nicht einfach wählen, sondern ich soll die Ränder nicht stärken. Will wohl meinen: Wähle mich und nicht die anderen.
Daß ich als Nichtwähler nicht dazugehöre – zu den Wählern halt, die immer noch glauben, daß es einen qualitativen Unterschied zwischen Zettelfalten und Zettelankreuzen gäbe – das will ich ja gar nicht leugnen. Es tut mir auch gar nicht leid, und vielleicht bin ich mit meiner mangelnden Einsicht mehr in dieser Bundesrepublik Deutschland angekommen als mancher Ankommer mit seinem gutversorgten parlamentarischen Sitzplatz.
Nur einen Vorwurf muß ich zurückweisen: Nichtwähler seien unpolitisch. Nein, ich glaube, die Mehrheit der Nichtwähler ist höchst politisch in ihrer Entscheidung, diesen ganzen, nach Bekundung ihrer jeweiligen Verkünder alternativlosen Alternativen ihre Stimme zu verweigern.
Es gehört zur verordneten Phantasielosigkeit dieser Gesellschaft, daß sie sich nicht vorstellen kann und will, daß aus der Weigerung, dem ganzen parlamentarischen Vertretungszirkus, der sich Demokratie nennt, Legitimation zu verleihen, mehr Veränderungsdruck entstehen könnte (ich sage: könnte) als durch alle Fraktionen in Bundestag und Landtagen zusammengenommen.
Allerdings – und da haben wir Nichtwähler gewaltigen Nachholebedarf und verdienen deshalb alle Schelte zu Recht – müssen wir endlich der Öffentlichkeit mitteilen, warum wir Nichtwähler (geworden) sind. Nicht, weil wir nicht verstanden hätten. Sondern weil wir zu gut verstanden haben. Ohne eine Partei der Nichtwähler wird das in Deutschland bedauerlicherweise wohl nicht abgehen.
Vielleicht ist aber auch alles ganz anders, und wir Nichtwähler sind nur eine ichbezogene, denk- und auch sonstig faule, politikuninteressierte Mehrheit, die ihre Wahlsonntage lieber in Bier- und Schrebergärten, an Stamm- und Skattischen verbringt, sich über die Aufregung der Wähler mokiert und ansonsten den lieben Gott einen guten Mann sein läßt.
Dann allerdings wäre Deutschland nicht mehr zu retten.