Des Blättchens 8. Jahrgang (VIII), Berlin, 4. Juli 2005, Heft 14

Es kommt

von Erhard Crome

Es kommt auf uns zu. Das Begehren der Bürgerlichen, endlich wieder das Land zu regieren. Die CDU sei immer »die Partei des Neubeginns in Deutschland« gewesen, sagte Angela Merkel in der Festveranstaltung zum 60. Jahrestag der Begründung ihrer Partei. Das war 1945 unter sowjetischer Besatzung in Berlin. Die DDR-CDU hatte dieses Datum dereinst gefeiert. Nun also die gesamtdeutsche Union. Begangen wurde das im Berliner Ensemble, weil das eigentliche am 16. Juni 1945 an selbiger Stelle geschehen war.
Aber hatte da nicht zwischenzeitlich Brecht gewirkt? Standen im Hintergrund noch Die Mutter oder Mutter Courage? Vielleicht zwischen den Kulissen beziehungsweise hinter dem Eisernen Vorhang? Oder waren zumindest ihre Schatten noch da? Sie sind durch einen Kohl nicht zu vertreiben. In Peymanns Inszenierung von Brechts Mutter steht am Ende Carmen-Maja Antoni mit der roten Fahne auf der Bühne. Sie wollte den Arbeitern zuvor noch Flugblätter geben, die aber antworteten: »Das alles gilt jetzt nicht mehr … Wir erkennen an, daß du es gut mit uns meinst, aber eure Flugblätter wollen wir nicht mehr nehmen.« Und sie entgegnete: »Jaa, aber bedenkt, daß die ganze Welt in einer ungeheuren Finsternis lebt, und ihr wart es bis jetzt, die noch für die Vernunft erreichbar waren.« Dann entschwindet sie im Dunkel, mit der roten Fahne. An der Stelle nun also die CDU. Sie verkündet den »Neubeginn«. Rot-Grün gilt als verflüchtigt, verschwunden – wie die rote Fahne.
Ein paar Stunden früher, am selben 16. Juni, hatte Frau Merkel in der Reinhardtstraße der analogen Feier der Liberalen beigewohnt. Auch dort war die Gründung unter sowjetischer Voraussetzung nun zur gesamtdeutschen Traditionslinie geworden, der Kampf um die deutsche Einheit Hauptlinie des Wirkens der Liberalen seit Anbeginn. »Ex oriente pax«, stand einst auf dem Parteiabzeichen der DDR-CDU. Aus heutiger Sicht kommt alles Neue in Deutschland aus dem Osten, zumindest nach den Worten von Cornelia Pieper, derzeit stellvertretende Bundesvorsitzende der FDP. Nicht nur, daß die meisten FDP-Politiker im Westen nach ihrer Lesart aus dem Osten kamen, so Genscher, der frühere Fraktionsvorsitzende Mischnik, Burkhard Hirsch und Günter Rexrodt. Auch der Fall der Mauer war »ohne Frage ein Verdienst vieler Ostdeutscher«. Seither habe sich im Osten »viel geändert«. Deindustrialisierung, Arbeitsplatzverlust und alle Folgen heißen hier: »Strukturwandel«, der den Menschen im Osten »viel abverlangt« habe. Nun sind sie die im Wandel Erfahreneren, sozusagen die Avantgarde im Sozialabbau. Bei Pieper klingt das so: »Sie haben zum Teil ihren Job verloren, neu gelernt, mußten ihr Leben ›umkrempeln‹, sind offen für alles Neue und sind bereit, für eine bessere Zukunft ihres Landes auf einen Teil des Wohlstands zu verzichten. Gerade die Ostdeutschen haben Mut zur Veränderung bewiesen. Diesen Mut wünsche ich mir manchmal auch in größerem Umfang bei unseren Landsleuten im Westen.«
Da steht der Wessi ganz schön dumm da, als ewiger Nörgler und Meckerer. Eben hat er noch geglaubt, der Osten schlucke das ganze schöne Geld, und nun steht er aller Veränderung im Wege. Es klatschen auch nur einige im Saal, wahrscheinlich die Ossis. Die Wessis müssen sich an diesen Gedanken erst noch gewöhnen. Frau Pieper schiebt dann noch nach: »Der Westen hat über seine Verhältnisse gelebt, er muß sich nun den geänderten Verhältnissen anpassen.« Das soll ein Zitat sein, von dem Ossi Genscher; er hat dort nicht coram publico widersprochen. Und dann ist Angela Merkel der Höhepunkt, weil sie, »als Mecklenburgerin«, Kanzlerkandidatin ist, die in den Bundestagswahlkampf zieht.
Hat sich Frau Pieper nur verplappert? Oder verriet sie den Kern des »Neubeginns«, der uns bevorstehen soll – eine nächste Phase der sozialen Demontage, kaschiert als neue Runde des Ost-West-Spiels in Deutschland? Erst wurde im Osten die Sozialstaatlichkeit drastisch reduziert, der »Strukturwandel« ausprobiert, und nun wird im Westen unter Verweis auf den Osten der beschleunigte Abbau gefordert. Wer den Schaden hat …
Nicht um Spott geht es. Es geht um handfeste Politik in den nächsten Jahren. Wenn es das ist, was Frau Merkel als Ostfrau im Kanzleramt bedeutet, dann müssen alle, die bisher den Osten verteidigt haben, nun um die Erhaltung aller guten Dinge im Westen kämpfen. Es geht in der Tat um Angleichung von Lebensverhältnissen – aber nicht nach unten. Und den Besitzern des Landes und ihren Regierern soll es nicht gelingen, die Seiten weiter gegeneinander auszuspielen.
Im übrigen wird berichtet, daß an eben jenem 16. Juni eine Fahne mit dem Angesicht Rosa Luxemburgs über dem Berliner Ensemble geweht haben soll.