Des Blättchens 8. Jahrgang (VIII), Berlin, 18. Juli 2005, Heft 15

Canettis irdisches Paradies

von Kai Agthe

Die »klein gebaute, unweigerlich in einen Mantel gehüllte Gestalt mit dem imposanten Kopf und der weißen Löwenmähne«, von der Werner Morlang spricht, könnte man im 100. Jahr der Relativitätstheorie für Albert Einstein in Bern halten. Die habituell ähnlich beschreibbare Person, um die sich die Erinnerungen und Gespräche drehen, ist jedoch Elias Canetti in Zürich, der spät zu Berühmtheit gelangte Schriftsteller und Nobelpreisträger. Zürich war der Alterssitz des vor genau einhundert Jahren, am 25. Juli 1905 – dem Jahr von Einsteins fundamentaler Formel – in Rustschuk (Bulgarien) geborenen Weltbürgers. Kurz vor der Vollendung seines 90. Lebensjahres starb er 1994 in der Stadt am Fluß Limmat, seinem irdischen Paradies.
In Zürich führte Canetti ein zurückgezogenes Dasein. Im kulturellen Leben der Stadt fiel er durch Nichtpräsenz auf. Mag Canetti – und das betonen die von Werner Morlang gesammelten Stimmen unisono – auch eine intellektuell und rhetorisch beeindruckende Erscheinung gewesen sein, so war ihm das persönliche Gespräch in kleiner Runde lieber als jede Öffentlichkeit. Vor allem in der Wohnung Klosbachstraße 88, wo er mit seiner zweiten (und wie Veza Canetti) früh verstorbenen Frau Hera und der 1972 geborenen Tochter Johanna lebte, pflegte er Geselligkeit, zeigte sich redselig, konnte aber auch ein »gewaltiger Zuhörer« (Paul Nizon) sein. Hier entwickelten sich »Brudersphären« (Morlang). Smalltalk war Canetti – der diese englische Gepflogenheit (wie im nachgelassenen Buch Party im Blitz zu lesen) durch seine Jahre in London nur zu gut kannte – höchst zuwider. Auch Fragen nach seiner Gesundheit standen auf dem Index. Mit einer Handbewegung pflegte er derlei Nichtigkeiten wegzuwischen, um mit seinen Gästen über politische und literarische Themen zu plaudern.
Für Max Frisch, so weiß der Schriftstellerkollege Paul Nizon zu berichten, habe Canetti »keine Hochschätzung« empfunden. Noch drastischer war die Reaktion, so Peter von Matt, wenn die Rede auf Marcel Reich-Ranicki kam. Mit Respekt äußerte sich Canetti, laut Nizon, hingegen über Friedrich Dürrenmatt. Auf jeden Fall sei seine Art, sich über Schriftsteller zu verlautbaren, stets »eine apodiktische« (Morlang) gewesen. Ein Autor, den Canetti partout nicht habe ausstehen können, das teilt Johann Steurer mit, sei Rolf Hochhuth gewesen. Es mag wohl eine intuitive Ablehnung des Stellvertreter-Autors gewesen sein, da Canetti, der Jude, noch nichts von Hochhuths gruseliger Freundschaft zu dem gerichtsnotorischen Antisemiten und Holocaust-Leugner David Irving wissen konnte. Der Hinweis auf diese diabolische Verbindung wurde ja erst im Zuge des Prozesses gegen Irving im Jahr 2000 publik.
Die Erinnerungen und Gespräche ergänzen das Canetti-Bild, das Sven Hanuschek, zeitgleich zur Veröffentlichung dieses Buches, in seiner Biographie des Dichters zeichnet. Die um Ganzheitlichkeit bemühte Textsammlung Werner Morlangs findet ihren kuriosen Höhepunkt in dem Beitrag von Mario Gmür, der erzählt, wie er nach dem Tod des Schriftstellers (und ganz ohne eBay) Besitzer zweier Hosen Canettis wurde. Unfreiwillig komisch hingegen sind Teile des Interviews, in dem Werner Morlang den ehemaligen Nachbarn Karl-Heinz Stoß befragt, der als Coiffeur, vulgo: Friseur, seinen Laden im Wohnhaus Klosbachstraße 88 führte und auch Canetti die vielzitierte Löwenmähne stutzte. So etwa, wenn Morlang fragt: »Was hat ihn von anderen Kunden unterschieden?« und der Friseur – was in aller Welt soll er auch sagen? – entgegnet: »Er hat sich wie andere verhalten. Er setzte sich, man sprach miteinander, erkundigt sich nach der Frau, nach den Kindern, unterhielt sich über private und andere Sachen, Ferien, Ereignisse im Quartier und so weiter.« Was der Herausgeber sich bei der Frage gedacht haben mag? Nein, nicht als er sie stellte, sondern als er sie in der Druckversion des Gesprächs beließ.
Vieles von dem, was Canetti literarisch noch ausführen wollte (als hätte er mit mehr als hundert Jahren gerechnet) blieb nolens volens unausgeführt. So der zweite Band seiner soziologisch und philosophisch ambitionierten Studie über Masse und Macht. Auch ein »Buch gegen den Tod« war geplant, weil der Autor ein physisches Ende allen Seins nicht akzeptieren wollte. Daß er darüber gestorben ist, wird man kaum als Ironie des Schicksals bezeichnen können. »Canettis Aufbegehren gegen den Tod ist die in Revolution verwandelte Sehnsucht nach dem verlorenen Paradies«, so lautet Jeremy Adlers Versuch einer quasi eschatologischen Begründung für dieses vehemente Aufbäumen Canettis gegen das letztlich Unvermeidliche.

Werner Morlang (Hg.): Canetti in Zürich. Erinnerungen und Gespräche. Nagel & und Kimche im Carl Hanser Verlag München – Wien 2005, 238 Seiten, 19,90 Euro