von Renate Hoffmann, z. Z. Palermo
Wer nach Sizilien reist, sollte die antike Mythologie halbwegs im Kopfe und den Bericht eines Italienfahrers eigener Wahl – zum Beispiel von Johann Gottfried Seume – unterm Arm haben. Und wärmende Kleidung im Gepäck, sofern er Europas höchsten Vulkan erklimmen möchte. Ätna, Mongibello (Berg der Berge), Gebirgsstock mit wechselnden Ausmaßen und unruhigem Verhalten. Da er seit urdenklichen Zeiten von dieser Unbeständigkeit beständig getrieben wird, kannten ihn schon die Vorväter. Flugs fand der »Brennende«, wie man seinen Namen, aus dem Sanskrit stammend, übersetzen kann, Aufnahme in die Mythologie.
Typhon opponiert gegen Göttervater Zeus. Dieser besiegt jenen und wälzt den Ätna auf ihn. Doch das schlangenköpfige Ungeheuer gibt nicht auf. Es versteht sich, daß der Berg seither grummelt und Feuer speit. Auch soll Hephaistos, Gott der Schmiede und des Feuers, im Untergeschoß des Ätna seine Werkstatt haben. Deshalb bebt das Gebirgsmassiv, raucht und sprüht Funken aus vielen Öffnungen. Homer läßt den listenreichen Odysseus und seine Gefährten in Küstennähe des Mongibello landen. Dort treffen sie auf die Kyklopen, Giganten ohne Manieren. Und legen sich mit ihnen an. Odysseus blendet den einäugigen Polyphem und flieht mit seinen Männern auf’s Meer. Der so Verletzte »riß ab eines großen Berges Gipfel und warf ihn, / Und der schlug ganz dicht vor dem dunkelbugigen Schiffe ein …« Zornig schmiß Polyphem noch ein zweites Stück Ätna hinterher. Bei Acitrezza stürzten die Brocken in die Fluten. Noch heute ragen sie aus dem Wasser.
Vulkanologen betrachten das Geschehen nüchterner: Der Berg liegt nahe der Bruchlinie zwischen Eurasischer und Afrikanischer Platte. Das bedingt die Bewegung der Erdkruste in diesem Bereich. Die »momentane Höhe« des Ätna beträgt 3350 Meter. Seine »normale Aktivität« beschränkt sich im Moment auf die vier Gipfelkrater. Wasserdampf und vulkanische Gase treten aus. Kleinere Explosionen schleudern Lavafetzen in die Luft, die als sogenannte Lapilli herunterfallen und Schuttkegel bilden. Seit Ende Februar 2003 sind keine gefahrdrohenden Unruhen seismologisch nachweisbar.
Man möchte hinauf. Der Riese mit Schneehaube und Dampffahne, die im Winde wechselt, lockt beharrlich. »Er gleicht der Circe«, schreibt David H. Lawrence (1885-1930). Nicht auf Mauleseln – wie noch in den sechziger Jahren –, im Bus zieht man der Majestät entgegen.
Kühler, glasklarer Aprilmorgen. Von Taormina-Mazzaro am Ionischen Meer landeinwärts; durch Orangen- und Zitronenhaine. Zafferana, Ortschaft im Schmuck blühender Gärten. Danach – Serpentine um Serpentine, höher und höher. Eine Schlängelspur, die Obstplantagen und Waldgebiete streift, im Ginstergelb verschwindet, schwarzes Lavagestein durchschneidet und im Schnee endet.
Zur Seilbahnstation. Man schwebt über Flecken niedriger Vegetation, die rot und grün gegen das Schwarz erstarrter Lava ankämpfen. Dampfsäulen steigen aus dem Boden. Von Asche überzogene weiße Felder dehnen sich. Eintauchen in Wolkengewaber. Am Ende des Lifts – Umsteigen in einen Jeep. Er schuckelt zwischen Schneewällen bis zur Höhe von 2920 Metern. La Torre del Filosofo. Ob der »Turm« deshalb so heißt, weil der Philosoph Empedokles (um 495-435 v.u.Z.) aus Agrigentum sich freitödlich in den Gipfelkrater des Ätna gestürzt haben soll? Welches der Wahrscheinlichkeit nach nicht zutrifft; aber die Geschichte ist so apart.
Zu Fuß über Geröll und Schnee. Der Wind ist eisig. Und die Erde warm. Nur wenige Zentimeter unter der Oberfläche liegen heiße Steine. Ich lasse sie in den Handschuh gleiten. Aus dem Südostkrater wälzen sich Dampfschwaden. Der Aufstieg zum Hauptkrater der Gipfelregion ist wegen Steinschlags nicht erlaubt. Johann Gottfried Seume erreichte ihn. Am »siebenten April des Morgens« 1802, gemeinsam mit englischen Touristen. »Keiner sprach ein Wort, und jeder staunte in den furchtbaren Schlund hinab, aus welchem es … dumpf und wütend herauftobte.«
Umrunden des Südostkraters. Eiskristalle prickeln auf der Haut. Die Sicht reicht nur bis zum Rücken des Vordermanns. Die große Umschau ins Land bleibt mir verwehrt. Ich bediene mich Schilderungen derer, die den weiten Blick genossen, sich von ihm begeistern und erheben ließen.
Maupassant ist unter ihnen. Der Wanderer nach Syrakus Seume. Auch Wilhelm Friedrich Waiblinger (1804-1830), der Dichter. Und Goethe, der jedoch nur bis zu den Monti Rossi des Bergmassivs vordrang. Der Gefahr wegen, es könnten Lapilli sein Denkerhaupt treffen. J.W.G. hinwiederum hielt sich an Johann Hermann von Riedesels Beschreibung einer Ätna-Besteigung aus dem Jahre 1767: »Die Wolken schweben unter dem Gipfel des Berges, und die Sonne bildet die schönsten Schattierungen. (Ich) erblickte … das Ufer von Messina bis Palermo; und ich übersahe alle Berge Siziliens, welche teils bebauet, teils mit Wäldern bewachsen, teils nackte Felsen sind … man glaubt der Natur zu gebieten und scheint über die Menschheit erhaben, wenn man sich über alles, was sterblich ist, so hoch empor siehet.«
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