von Wolfgang Geier
Während einige Eurokraten die Fetzen des Verfassungsvertrages einsammeln, andere sich dieselben um die Ohren hauen und hierzulande politisches Schmierentheater gespielt wird, bewegt sich in der Rußländischen Föderation die Putinisazija weiter in Richtung Putinschtschina (Das Blättchen 8/2005), das Jahr 2008 fest im Blick. Kaum jemand am Hofe Putins, in seiner Duma-Fraktion, aber auch in anderen Strukturen und Institutionen vermag sich vorzustellen, daß der Präsident nach Ablauf seiner zweiten Wahlperiode im »besten Mannesalter« und auf der Höhe seiner bisherigen Machtausübung vulgo Selbstherrschaft die Stellung eines Staatspensionärs oder einer dekorativen Repräsentationsfigur annehmen würde.
Wie also, so wird in den Kreisen um ihn überlegt, kann man das »System Putin« auf Dauer stellen?
Eine Änderung der Verfassung mit einer Verlängerung der Amtszeit und der Wahlperioden würde, vorausgesetzt in der Duma käme die erforderliche Mehrheit zustande, zwar kurzfristig eine Art von Lösung bringen, im Grunde jedoch diese nur vertagen, denn nach einer bestimmten Zeit stünde man vor dem gleichen Problem.
Ein unter Umgehung von Verfassung und Verfassungsorganen organisierter »Ruf des Volkes«, möglicherweise quasi-legal als Volksabstimmung oder ähnlich deklariert und organisiert, könnte Putin »erheben« – jedoch zu was, wohin, für wie lange?
Präsidentschaften »auf Lebenszeit«, auf welchem Wege auch immer zustandegekommen, erscheinen selbst in Kreisen, die bisher Rußland ohnehin für »demokratieunfähig« und für »diktaturgeeignet« hielten, als unzeitgemäß oder, wie man im Politikkauderwelsch hierzulande zu formulieren pflegt, für nicht »vermittelbar«.
Eine Schilderhebung durch eine Militärdikatur würden einige Leute schon für erwägenswert halten, aber auch hier sind der Weg und die Methode noch nicht das Ziel.
Eine bonapartistische Lösung des Problems ist immerhin denk- und vielleicht sogar machbar. Der coup d’etat müßte nicht unbedingt nach dem bekannten Drehbuch ablaufen: Erster Konsul, Konsul auf Lebenszeit, Erbkaiser der Franzosen.
Einen »Wahlkaiser aller Reußen« können sich einige ernstzunehmende Leute zumindest in Gedankenspielen vorstellen, die bekanntlich auch den Sinn und Zweck haben, über »Spinnereien« brauch- und machbare Vorstellungen zu gewinnen.
Erörterungen dieser und anderer, ähnlicher Art finden inzwischen nicht mehr nur im Geheimen, sondern in verschiedenen engeren und weiteren Zirkeln einschließlich des »inneren Kreises« statt; im übrigen, wie stets: budjet, posmotrim.
Gleichzeitig verändert sich die Lage im Lande in dramatischer Weise. Die Bevölkerungsbewegung ist mit -0,3 Prozent trotz des bisherigen Zustroms von Millionen Russen aus früheren Sowjetrepubliken beziehungsweise GUS-Staaten rückläufig.
Die Anzahl von Kindern geht pro Paar oder Familie weiter zurück. Die einfache Reproduktion der Bevölkerung findet nicht mehr statt, von einer erweiterten gar nicht zu reden.
Die Lebenserwartung der Männer liegt jetzt bei 59, die der Frauen zwischen 67 und 69 Jahren. Zwischen 1965 und 1985 war die der Männer von 63 auf 67 Jahre gestiegen. Inzwischen zeigen sich die Wirkungen massenhafter sozialer Verarmungen und Verelendungen, Verwahrlosungen und des weiter zunehmenden Alkoholmißbrauchs.
Nach offiziellen Angaben des Arbeitsministers leben mindestens 34 Millionen der inzwischen noch 145 Millionen Einwohner der Föderation unterhalb der sogenannten Armutsgrenze beziehungsweise müssen mit weniger als umgerechnet fünfzig Dollar im Monat leben.
Hinsichtlich der Gefahr, eines gewaltsamen Todes zu sterben, liegt das Land hinter Kolumbien und El Salvador auf dem dritten Platz der Weltverbrechensskala.
Über achtzig Prozent der rußländischen Privatwirtschaft befinden sich in der Hand von 22 Großeigentümern. Das Land wird von mafiokratischen Strukturen und Institutionen kontrolliert und beherrscht. Vor zehn Jahren erklärte der damalige Innenminister, es seien etwa 6000 »Groß«-Strukturen, die ihre Basis in soundsoviel zehntausenden »Klein«-Strukturen hatten. Der damalige Präsident schickte den Minister nach dieser Mitteilung in die Wüste.
In deutschen Medien wurden kürzlich erneut Krokodilstränen wegen des »Schand- und Schauprozesses« gegen einen Oligarchen vergossen. Der heute 41jährige war zum Zeitpunkt des Zusammenbruchs der UdSSR 25 Jahre alt und ein subalterner Beamter im Energiebereich. Fünf Jahre später war der junge Mann Milliardär und Boß eines Energieimperiums. Über dieses immerhin aufschlußreiche biographische Detail war jedoch in deutschen Medien weder etwas zu hören noch zu lesen; es fiel den sonst so investigativen Journalisten offenbar nicht auf.
Nach dem von Transparency International ermittelten Korruptionsfaktor nimmt das Land Platz 78 von 91 ein. Korruption ist zu einem umfassenden, alle Bereiche erfassenden und steuernden System geworden. Das betrifft auch ausländische Investitionen, diese betragen gegenwärtig etwa ein Drittel derer in Polen. Nach der Berechnung aller weltwirtschaftlich relevanten Faktoren und Indizes liegt die Föderation gemeinsam mit Brasilien auf Platz 11 und im Pro-Kopf-Einkommen gemeinsam mit Trinidad-Tobago auf Platz 78 der Weltrangliste; das gesamte Exportvolumen ist geringer als jenes des Stadtstaates Singapur.
Angesichts oder ungeachtet dessen arbeitet die Putin-Administration an ideologischen und politischen Sicherungen der verschiedenen Szenarien und Perspektiven: Die Rolle Stalins, so heißt es, sei als Führer der Partei, Staatsmann und Feldherr im Großen Vaterländischen Krieg prinzipiell neu zu untersuchen und entsprechend differenziert neu zu bewerten; das Gleiche gelte auch für die Gesamtdarstellung dieses Krieges und seiner Vorgeschichte zwischen 1939 und 1941 sowie seiner Nachgeschichte von 1944/45 bis 1948 beziehungsweise bis zum Tode Stalins 1953. Während der Feierlichkeiten zum 1. Mai 2005 marschierten auf dem Roten Platz in Moskau wieder Demonstranten unter überlebensgroßen Bildern Stalins in der Pose des Feldherrn.
Die Sicherung der Selbstherrschaft erscheint weiterhin als das charakteristische und typische Kontinuum und als das tragende, wesensbestimmende Element in der rußländischen Geschichte, als Inhalt und Ziel der eingangs benannten Entwicklungen.
Schlagwörter: Wolfgang Geier