von Jürgen Große
Wen von morgens (Tagesspiegel, tageszeitung) bis abends (Tagesschau) immer neue Wellen der Sprachverhunzung beziehungsweise Sprechschwäche überschwemmen, der greift nach einem solchen Buch wie nach einem Rettungsring. An Gaugers Studie hält man sich gern und lange fest, seine Glossen (darunter eine zur Glosse selbst) sind vorzüglich geschrieben, damit die überzeugendste Art von Sprachkritik, nämlich selbstverständliche Sprachbeherrschung. Ein kurzes Auftauchen im Meere des Sprachunsinns, ein Luftschnappen wenigstens diese fünfzig Kapitel lang!
Sie behandeln Sprachprobleme unterschiedlichen Typs: Es finden sich Beobachtungen zur Sprachveränderung (Bringt die E-Mail auch sprachlich Neues?), Überlegungen zur Etymologie und zur Geschichtlichkeit der Sprache (»Die Sprache spricht«), Hinweise auf grundlegende und verkannte grammatische Sachlagen (Drei Arten von Äußerungen), sprachpolitische Meditationen (Deutsche Juden). Als ehemaliger Professor (Romanistik/Freiburg) kann Gauger sich Seitenhiebe auf andere Professoren nicht versagen, etwa auf die ihm ärgerlichen linguistischen beziehungsweise sprachphilosophischen Auffassungen in Heideggers Ontologie der Sprache oder im Naturalismus eines Steven Pinker. Doch dies alles kommt locker, nie lehrerhaft (oder oberlehrerhaft) daher; vieles wird man gern ein zweites Mal lesen.
Was hat Gauger zum sprachlichen Ost-West-Verhältnis zu sagen? Das Thema erscheint unter der Überschrift Konsens: »Nicht nachgeben, meine ich entschieden, sollten wir (also im Westen) der für uns völlig neuen, im Osten offenbar üblichen Akzentuierung des Worts auf der ersten Silbe.« Mit anderen Worten: Das Beitrittsvolk gab der politischen Klasse des Westens die Betonung vor. Hilft hier der Hinweis auf massenhafte Erfahrung des Gegenteils, nämlich verbreiteter Falschbetonung im Osten erst nach der deutschen Einheit? Vielleicht könnte man Gaugers Behauptung retten, wenn man statt »wir im Westen« »wir im Südwesten« oder »wir im Süden« lesen würde. Gauger kokettiert immer wieder mit seiner schwäbischen Verwurzelung, seine aktuellen Sprachbeispiele sind vielfach dem Merkur entnommen.
Gaugers einziger Beleg für die östliche Falschbetonung auf der ersten Silbe ist der (genossenschaftliche) Kónsum, doch entspricht diesem ja auch ein sachlicher Unterschied zu Konsúm qua Verbrauch. Der Leserschaft aus dem »Beitrittsgebiet« empfiehlt der Autor zum Kapitelschluß eine Art Bekenntnis, das wie folgt nachzusprechen ist: »Ich übernehme, im Unterschied zu dem, was ich bisher gemacht habe, die offensichtlich richtige – und auch vom Duden 1999 klar sanktioniert – Betonung Konséns – gerade bei dem Wort sollte auch schon in der Betonung kein Disséns sein.«
Einen weiteren Verzicht legt Gauger seinen eventuell russischkundigen Lesern nahe, indem er die korrekte Betonung von Potemkinschen Dörfern als Patjomkinschen Dörfern zum Abzeichen der »Halbgebildeten« erklärt: »man muß nicht zeigen, daß man russisch (oder irgendeine andere Sprache) kann. Es ist ein wenig unfein, dies zu tun …« Die diesmal entgegenlautende Auskunft des Dudens erwähnt Gauger nur, um sie gleich abzuweisen. Warum sollte aber jemand von einer Besichtigung des Panzerkreuzers Patjomkin sprechen und – wenn die Rede über manches kaum kaschierte Wohnelend auf dem Wege nach St. Petersburg kommt – von Potemkinschen Dörfern?
In solchen Zurechtweisungen deutet sich ein wichtiger, für mein Gefühl in dem Buch oft vernachlässigter Aspekt an, nämlich das Verhältnis von Sprachpraxis und Machtverhältnis. Gauger vergleicht etwa die ungenierte (deutsche) Rede von einem Feind nach dem Ersten Weltkrieg mit ihrem Verschwinden nach dem Zweiten Weltkrieg. In letzterer Situation »entsprach es wirklich nicht der Stimmung«. Es entsprach, so möchte man einwerfen, vor allem nicht dem Faktum der vollständigen Eingebundenheit beider Deutschländer in einander feindliche Blöcke, die nicht mehr »national«, sondern je durch »Werte«- beziehungsweise »Klassen«zugehörigkeit definiert sein sollte.
Bekanntlich hat die angloamerikanische Besatzungs-, Schutz- oder Freundesmacht bis zuletzt ungleich stärker sprachnormierend gewirkt, als dies seitens der sowjetrussischen für die DDR der Fall war. Für diese Prägung westdeutscher Denk- und Lebensweisen durch Sprachmacht qua Besatzungs- und Kulturmacht ist Gauger merkwürdig unempfindlich, auch wo sie viele Merkwürdigkeiten deuten hülfe. Beispiel: die Glosse Weil wir sind doch nicht blöd. Hier geht es um die – nach 1990 vom Westen her auch übers Beitrittsgebiet gekommene – massive Ersetzung der Konjunktion denn durch weil. Sie folgt, wie so vieles, der umstandslosen Übertragung der englischen Grammatikformen ins Deutsche. Frühe Beispiele finden sich in Sendungen der – synchronisierten – Sesamstraße, heute ist das weil besonders von Politikern zu vernehmen, die ihre Jovialität gern durch sprachliche Unbedarftheit beweisen. Gauger sucht hier nach »psychologisch zu fassenden Gründen« einer kleinen Pause, eines Luftholens vor dem begründenden Hauptsatz.
Anderes Beispiel: die Glosse Politisch korrekt? Gauger polemisiert mit vorzüglichen und moralisch vorzeigbaren Argumenten gegen eine »Strangulierung« des Politischen: »Sprachkritisch ist also dezidiert zu sagen: es ist geradezu inkorrekt, im Blick auf Politisches von Korrektheit überhaupt zu reden. Es gibt hier nur das Verfassungskorrekte, das (bei uns) mit dem ›Grundgesetz‹ Übereinstimmende.«
Nun ist die PC – die Political Correctness – aus dem amerikanischen Englisch zu uns gekommen, seit zirka zehn Jahren höre ich im Gespräch mit US-Amerikanern das Wort ausschließlich als Denunziationsausdruck für wohlfeile Gesinnungsdemonstration. In solchem »ironisch scherzhaftem Sinne« will Gauger das Wort allenfalls gelten lassen. Aber gerade dieser Gebrauchssinn herrscht ja als der öffentliche vor – während der andere ein Merkmal nichtöffentlichen, nämlich politisch-strategischen Umgangs mit der PC ist; ein Gegenstand von Beratertätigkeit zur Absicherung eigenen Sprechens und Verunsicherung des gegnerischen. Als ›ironisch-scherzhaft‹ habe ich zunächst die Überschrift zur ersten Glosse (Was mich nervt) aufgefaßt – doch ist das Jargonwort »nerven« durch Gauger offenbar weder sprachkritisch noch scherzhaft gemeint. Gauger leitet seine Aufzählung übrigens mit einem »Nerven tut mich …« ein. Hier muß ich wohl an Scherz und Ironie glauben.
Hans-Martin Gauger: Was wir sagen, wenn wir reden. Glossen zur Sprache, Hanser Verlag München – Wien 2004, 277 Seiten, 19,90 Euro
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