von Jörn Schütrumpf
Ein Linker in Deutschland zu sein, ist spätestens seit 1907 ein etwas schwieriges Los. Anderthalb Jahrzehnte zuvor, 1892, war zwar schon Rudolf Rocker – der spätere Kopf eines intelligenten Anarchosyndikalismus – aus der SPD geflohen; aber wer weiß schon in Deutschland, was intelligenter Anarchosyndikalismus ist?
Bleiben wir also bei 1907 und damit bei Rosa Luxemburg. Vor einhundert Jahren war die SPD ins Trudeln geraten. Nirgends hatte sich bis dahin die Arbeiterschaft so gut als Klasse organisiert wie in Deutschland: mit eigenen Gewerkschaften, Bestattungshilfen, Bausparkasse, Freidenker-Verein, Abstinenzlerbund, Jugendweihe, Volkshäusern und einer starken parlamentarischen Partei. Deren verkündetes Programm zielte auf eine Gesellschaft der Solidarität, frei von Ausbeutung und Unterdrückung, und stand im Gegensatz zur herrschenden Ordnung.
1907 brachen aber unübersehbar Gegensätze auf. Denn die SPD, gegen die von allen anderen Parteien ein ultranationalistischer Wahlkampf geführt worden war, hatte erstmals eine Wahlniederlage erlitten. Bis dahin war die immer noch jugendliche Rosa Luxemburg vom vaterlandslosen SPD-Parteivorstand – einer Vereinigung alter und alternder Männer – als Vorzeige-Linke und als Erbin des sozialistischen Anspruchs gern gehätschelt worden. Nun entschied sich dieser Vorstand für das Vaterland.
Schon vor 1907 hatten in der SPD gegen die »Umstürzlerei« à la Rosa Luxemburg offen jene Kräfte opponiert, die den weiteren Ausbau der Organisation, den Gewinn neuer Parlamentssitze und den Bestand des proletarischen Milieus nicht mehr durch sozialistische Gegenentwürfe zur kaiserlich-militaristischen Gesellschaft gefährdet sehen wollten. Sie bekamen nun Oberwasser – trotz aller Amplituden letztlich bis heute.
1907 begann die SPD ihren Weg »in die Gesellschaft«, der sie über die Zustimmung zu den Kriegskrediten am 4. August 1914 zum unmündigen Komplizen am staatlich organisierten Mord an deutschen Arbeitern auf den Schlachtfeldern des Ersten Weltkrieges sowie an der Abschlachtung Rosa Luxemburgs und Karl Liebknechts werden lassen sollte. Daran heute zu erinnern, schickt sich nicht. Schließlich haben wir die Globalisierung; außerdem zu hohe Lohnnebenkosten, vor allem bei denen, die zu ehrlich sind, die Mehrwertsteuer legal zu verrechnen; zudem eine Generation, die ein kapitalverträgliches Frühableben verweigert, sowie eine viel zu teure BVG – denn Infrastruktur hat nicht für die Gesellschaft dazusein, sondern Rendite abzuwerfen. Das sind die wirklichen Probleme – und wer das nicht begreift, spaltet die Linke.
Immer, wenn die Linke gespalten ist, nütze es der Rechten, sagt ein Ex-SEW-Mitglied an der Spitze des DGB. Daß die Linke 1914 noch gar nicht gespalten war und trotzdem der Rechten nützte und daß seit 2002 die Linke auf bundespolitischer Ebene kaum eine Rolle spielt und trotzdem – die Feder sträubt sich – »die Linke« eine Politik der Rechten mit einer Unverschämtheit betreibt, wie die das selbst seit 1945 nie gewagt hat, mag Michael Sommer vergessen haben und soll hier nicht unser Problem sein. Die Linke hat sich immer dann gespalten, wenn ihre Mehrheit eine rechte Politik ihrer Führer duldete.
Links ist die Linke nicht per Deklaration – Hitler erklärte, daß er antikapitalistische Politik betreibe, weshalb er weit bis ins Jahr 1930 in bürgerlichen Kreisen für einen Linken gehalten wurde. Links ist die Linke nur dann, wenn sie es jeden Tag erneut unter Beweis stellt: mit einer Politik gegen jedwede Unterdrückung, gegen jegliche Ausbeutung, für Solidarität – oder altmodisch und damit völlig »politikunfähig« formuliert: mit den Forderungen Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit und das ganze auch noch in jeder Hinsicht als unteilbar postuliert.
Die Teilhabe der SPD an der Barbarei Krieg trieb zu Ostern 1917 eine Minderheit ihrer Mitglieder in die USPD. Strategisch erfolgreich wurde jedoch eine schon etwas länger bestehende Gruppe – die Gruppe Internationale um Rosa Luxemburg, Franz Mehring und ihre Freunde, ergänzt um Karl Liebknecht –, die durch die USPD hindurchging und zur KPD wurde. Im Dezember 1920 vereinigte sich mit ihr die Mehrheit der USPD zur VKPD, während die Minderheit 1922 in die SPD zurückkehrte.
Das geschah nicht von ungefähr. Zwischen der SPD, die während des Ersten Weltkrieges ein Bündnis mit den traditionellen Eliten eingegangen war und und während der Novemberrevolution auch noch den deutschen Militarismus gerettet hatte, einerseits und der institutionalisierten Revolution in Rußland und ihrer Verbündeten in Deutschland andererseits hatte eine dritte, demokratisch-sozialistisch agierende, Kraft keine Chance, zumal die immer wieder illegalisierte KPD, um überhaupt weiterbestehen zu können, sich in die Abhängigkeit von den Bolschewiki begeben hatte. Jeder, der sich in den folgenden Jahrzehnten von der SPD trennte oder als Linker auch nur von ihr getrennt blieb, stand im Verdacht, im Solde Moskaus – und später im Kalten Krieg im Solde Ostberlins – zu stehen. Bestenfalls wurde er als kauziger Wanderer zwischen den Welten zur Verspottung freigegeben. Zwischen 1919 und 1990 änderte sich – so viel sich auch sonst veränderte – an dieser Konstellation im wesentlichen nichts.
Gerhard Schröder kam sie 2002 noch einmal zugute, und die SPD hofft erneut darauf: auf die westdeutsche Erinnerung an sächselnde Grenzer und an schlechtgereinigte Toiletten – ein Phantomgeruch, der weder vom Osten noch von der PDS bisher hat weichen wollen. Doch der Ost-West-Konflikt hat seine Substanz verloren; er ist nicht ewig prolongierbar.
Am bittersten wird es die domptierte SPD-»Linke« treffen. Jetzt, da sich außerhalb der SPD ein weites Feld für eine undenunzierbare Linke öffnet, wird linke Konkurrenz nicht mehr niederzuhalten sein. Es steht eine strategische Kräfteverschiebung an – und damit die Vollendung von 1989.
Im Moment – wir schreiben den 29. Mai – benehmen sich nicht wenige in PDS und WASG so, als wenn sie nicht begriffen hätten, daß sie unumkehrbar ins Freie entlassen worden sind und lernen müssen, »ohne Geländer« (Hannah Arendt) zu denken. Die Linke wird nur dann zu einer ernstzunehmenden politischen Kraft werden, wenn sie sich fair und ohne Bedingungen allen öffnet, denen es um nachhaltigen Widerstand gegen den Klassenkampf von oben zu tun ist. »Ein runder Tisch wartet«, schrieb 1932 Carl von Ossietzky. Damals verhallte seine Aufforderung ungehört.
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