von Wolfram Adolphi
Acht Jahre nach der Befreiung vom Faschismus, im Jahre 1953, übergab die Sowjetunion die Leuna-Werke – den im Dreieck zwischen Halle und Leipzig gelegenen riesigen, sieben Kilometer langen und fast drei Kilometer breiten Chemiebetrieb, in dem 30000 Arbeiter und Angestellte beschäftigt waren – in das Eigentum der DDR. Der den symbolischen Schlüssel als neuer Werkleiter in Empfang nahm, war zu jener Zeit 33 Jahre alt: Wolfgang Schirmer, Chemiker, Dr. rer. nat., mitbringend bereits drei Jahre Direktorenerfahrung im Stickstoffwerk Piesteritz.
Im Mammut-Unternehmen Leuna-Werke waren bis 1945 herausragende Forschungsleistungen und direkte Einbettung in Krieg und faschistische Verbrechen eine unheilvolle Allianz eingegangen. 1916 von der Badischen Anilin- und Sodafabrik (BASF) als Ammoniakwerk Merseburg zur Herstellung von Sprengstoffen und Stickstoffdünger an idealem Standort zwischen den hochwertigen Braunkohlevorkommen des Geiseltals und der Kühl- und Brauchwasser liefernden Saale in erster Ausbaustufe errichtet, war der Betrieb in den dreißiger Jahren von der IG Farben nicht nur zum Zentrum der Herstellung von synthetischen Treibstoffen und Chemiefasern entwickelt worden, sondern auch an der Giftgasproduktion für die Vernichtungslager der Nazis beteiligt. Zu den 1948 in Nürnberg wegen Kriegsverbrechen verurteilten Führungsspitzen der IG Farben gehörten auch Verantwortliche der Leuna-Werke. So war es nur folgerichtig, daß das Unternehmen zu denjenigen zählte, die von der Sowjetunion in Übereinstimmung mit den anderen Siegermächten der Antihitlerkoalition enteignet und zu Reparationsleistungen herangezogen worden war. Damit diese aber überhaupt erbracht werden konnten, hatten zunächst die verheerenden Schäden beseitigt werden müssen, die dem Werk 1944/45 durch britische und US-amerikanische Bombardements zugefügt worden waren.
Das war das Erbe, das Wolfgang Schirmer im Jahre 1953 antrat: kurz nach der tiefen Krise des 17. Juni, in einer Situation zudem, da noch etliche hochrangige Forscher und Techniker des Werkes im Rahmen der Reparationen in der Sowjetunion tätig waren und viele andere den Betrieb in Richtung der Nachfolgeunternehmen der IG Farben in der Bundesrepublik Deutschland verlassen hatten. Aber Benzin wurde gebraucht und Dünger, und an unzähligen weiteren Roh- und Zwischen- und Fertigprodukten der Chemieindustrie war ebenso dringender Bedarf, wenn denn die Wirtschaft des kleinen deutschen Teilstaates DDR überhaupt eine Chance haben wollte.
Wolfgang Schirmer, der von 1939 bis 1945 in Berlin Chemie, Physik und allgemeine Naturwissenschaften studiert und 1948 als wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Technischen Hochschule Berlin promoviert worden war, meisterte die Aufgabe, der mächtigen Fabrik vorzustehen und ihr wachsende Geltung nicht nur in der DDR-Industrie selbst zu verschaffen, sondern auch in dem internationalen Gefüge, in das sie eingegliedert war und das nach Westen ebenso reichte wie nach Osten, bis zum Jahre 1962. Dann trug man ihm in Berlin (DDR) eine neue Aufgabe an: Er wurde zunächst stellvertretender Direktor, 1964 Direktor des Instituts für Physikalische Chemie der Deutschen Akademie der Wissenschaften, das später in Zentralinstitut für Physikalische Chemie der Akademie der Wissenschaften der DDR umbenannt wurde. Direktor dieses Instituts blieb er bis zu seiner Emeritierung im Jahre 1985.
Wolfgang Schirmer hatte Qualitäten, die einen verleiten, von »guten alten Zeiten« zu sprechen. Im Jahre 1954 – da lag die Verantwortung für die Leuna-Werke schon ein Jahr lang auf seinen Schultern – habilitierte er sich an der Humboldt-Universität zu Berlin, und 1955 berief ihn die Technische Hochschule für Chemie Leuna-Merseburg zum Professor. 1959 – noch immer stand er den Leuna-Werken vor – wählte ihn die Akademie der Wissenschaften zu ihrem korrespondierenden, 1961 zu ihrem ordentlichen Mitglied. Ein Werkleiter, der leiten konnte und zugleich Wissenschaftler war. Ein führender Industriemann, der sich zur gleichen Zeit auch an Hochschulen und in der Akademie zu Hause fühlte. Der es sich nicht leisten konnte – und auch nicht wollte! –, Wirtschaft nur als Betriebswirtschaft zu denken, und dem es als Sozialist niemals in den Sinn gekommen wäre, »die Wirtschaft« nur als Unternehmer- oder Direktorenklub zu sehen. Ganz zu schweigen davon, daß ihm Instrumente wie Massenentlassungen oder Drohung mit Kapitalabwanderung ins Ausland zur »Verbesserung des Betriebsergebnisses« nicht zur Verfügung standen. 1963 wurde er Mitglied, 1968 stellvertretender Vorsitzender des Forschungsrates der DDR.
Sein Name steht – so sagen es einschlägige Würdigungen beileibe nicht nur im deutschsprachigen Raum – für wichtige Impulse für neue Entwicklungen auf den Gebieten der Thermodynamik der Adsorption, der Sorptionskinetik und der Moleküldynamik in Zeolithen. Aber wer sich an das Professorenkollegium im DDR-Fernsehen erinnert, weiß, daß Wolfgang Schirmer sich nicht nur auf diesen Spezialgebieten zurechtfand, sondern zugleich ein anregend philosophierender Fragesteller und Diskutant zu allgemeinsten gesellschaftlichen Problemen zu sein vermochte, und in Leuna spricht man bis heute davon, daß er den Weg ins Werk nicht selten zu Fuß zurückgelegt, mit den Leuten geredet und überhaupt mit seiner Frau und seinen beiden Söhnen ein ganz normales Leben in der kleinen Stadt geführt hat. Ein Mann von selten gewordener Kultur.
Eine Ikone? Natürlich nicht. Wolfgang Schirmer war von 1954 bis 1967 Kandidat des ZK der SED, er trug zur wirtschaftlichen und wissenschaftlichen auch politische Verantwortung, und wer ihn erlebt hat am Ende der DDR und in den Jahren nach der Wende, weiß, wie gründlich und selbstkritisch er sich damit auseinandergesetzt hat. Fortschreitende Krankheit hat ihn daran gehindert, die Dinge zu Papier zu bringen. Auch Forschungen zum Vermächtnis des Chemikers, Philosophen und Nobelpreisträgers Wilhelm Ostwald (1853-1932), dem er sich geistig verwandt fühlte, blieben Fragment.
Nicht unerwähnt bleiben soll, daß Wolfgang Schirmer als Institutsdirektor in Berlin einer jungen, aus einem Pfarrhaus im Norden Brandenburgs in die Hauptstadt gekommenen Promovendin namens Angela Merkel fördernd zur Seite gestanden hat. Eine Episode nur, gewiß. Aber auch sie hat viel mit seiner Kultur zu tun. Wolfgang Schirmer ist am 16. April 2005 kurz nach Vollendung seines 85. Lebensjahres in Berlin gestorben.
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