von Fritz Klein
Am 8. Mai 1945 um 23.01 Uhr trat die bedingungslose Kapitulation der Wehrmacht in kraft. Die Niederlage des faschistischen Deutschlands war besiegelt. Deutschland war vom Faschismus befreit. Kapituliert hatte das deutsche Oberkommando zweimal, am 7. Mai am Sitz des von Eisenhower befehligten Oberkommandos der Alliierten Expeditionsstreitkräfte (Amerikaner, Briten, Franzosen) in Reims, am 8. Mai am Sitz des sowjetischen Oberkommandos in Berlin-Karlshorst. Zur vielstimmigen Erinnerung dieser Tage an das Kriegsende vor sechzig Jahren mag ein Blick auf die nicht selten irrig dargestellten, auch legendenumwobenen Vorgänge beitragen.
Deren Darstellung in der DDR war unvollständig bis falsch. Bemüht, die Unterzeichnung in Karlshorst als die eigentlich maßgebliche Kapitulation hinzustellen, fanden die Autoren der einschlägigen Passagen in Geschichtsschreibung und Nachschlagewerken unterschiedliche Methoden tendenziöser Entstellung. Entweder wurde Reims einfach ausgelassen und nur Karlshorst erwähnt. Oder man erwähnte Reims, wertete den Vorgang aber unter Verschweigen der sowjetischen Teilnahme als Teilkapitulation nur vor den Westmächten ab, der dann die wirkliche Entscheidung in Karlshorst gefolgt sei. Mehrfach findet sich die Behauptung, in Reims sei nur ein »vorläufiges Protokoll« unterzeichnet worden, das erst durch den Akt in Karlshorst in Kraft gesetzt worden sei. Stalin hatte es so in seiner Rede zum Tage des Sieges am 9. Mai formuliert. Das traf aber nicht zu. Die Kapitulation in Reims war rechtswirksam, bestätigt am 7. und 8. Mai durch Erklärungen der amerikanischen und britischen Oberkommandos, vorbehaltlos auch anerkannt in Rundfunkreden des »leitenden Ministers« der »geschäftsführenden Reichsregierung« Schwerin von Krosigk und von »Reichspräsident« Dönitz. Auch auf sowjetischer Seite wurde das so gesehen und die deutschen Truppen durch Flugblätter darüber informiert.
Die Initiative zur Einleitung von Kapitulationsverhandlungen war von Großadmiral Dönitz ausgegangen, der, von Hitler als sein Nachfolger als »Reichspräsident« bestimmt, mit einer »geschäftsführenden Reichsregierung« in Flensburg residierte. Bis zu ihrer Verhaftung am 23. Mai wurde Dönitz von den Alliierten faktisch als oberste deutsche Autorität akzeptiert. Bis in die letzten Tage des Dritten Reiches einer der skrupellosesten Durchhaltekrieger und treuesten Gefolgsleute Hitlers, hatte er endlich verstanden, daß Deutschland den Krieg verloren hatte. Bestrebt, die Kampfhandlungen an der Westfront rasch zu beenden, ordnete er zwischen dem 2. und dem 7. Mai Teilkapitulationen deutscher Streitkräfte in Norditalien, den Niederlanden, Dänemark, Nordwestdeutschland und Österreich an. An der Ostfront sollte der Kampf mit dem Ziel der Rückführung möglichst großer Teile der dort eingesetzten deutschen Truppen zunächst fortgesetzt werden. Hartnäckig bemühte er sich am 5. und 6. Mai beim Chef der Alliierten Expeditionsstreitkräfte um eine Kapitulation der Wehrmacht nur gegenüber den Westmächten. Eisenhower erteilte den Emissären Dönitz’, Jodl und v. Friedeburg, aber eine klare Absage. Für ihn kam nur die bedingungslose Kapitulation vor allen Alliierten in Frage. Dönitz mußte sich fügen. Bevollmächtigt von Dönitz unterzeichnete der Chef des Wehrmachtsführungsstabes, Generaloberst Jodl, in Reims am 7. Mai um 02.41 Uhr »gegenüber dem Obersten Befehlshaber der Alliierten Expeditionsstreitkräfte und gleichzeitig dem Oberkommando der Sowjettruppen« die Urkunde der bedingungslosen Kapitulation aller deutschen Streitkräfte. Die Einstellung der Kampfhandlungen sollte am 8. Mai um 23.01 Uhr erfolgen. Von alliierter Seite zeichneten gegen der amerikanische General Bedell Smith, Stabschef Eisenhowers, und der sowjetische Vertreter im Kommando Eisenhowers, General Susloparow. Als Zeuge unterschrieb der französische Generalmajor Sevez.
Zusammen mit der Kapitulationsurkunde hatte Jodl ein weiteres Schriftstück unterschrieben. Darin erklärte er das Einverständnis der deutschen Seite mit einer Ratifizierung der soeben vollzogenen Kapitulation durch den Chef des Oberkommandos der Wehrmacht und die Chefs der deutschen Teilstreitkräfte. Zeitpunkt und Ort dieses Aktes sollten durch die Alliierten bestimmt werden. Nach Erkenntnissen des deutsch-russischen Museums in Berlin-Karlshorst spielten bei dieser Festlegung Bedenken der Briten eine Rolle. Sie erinnerten sich an die Unterzeichnung des Waffenstillstands am Ende des Ersten Weltkrieges, als im November 1918 ein ziviler Politiker und ein unbekannter General unterschrieben und Hindenburg, der Chef der Obersten Heeresleitung, auf deren Druck der Waffenstillstand abgeschlossen worden war, wenig später vom im Felde unbesiegten Heer sprach, das nur durch den Dolchstoß der Revolution zu Fall gebracht worden sei. Die persönliche Unterschrift der Inhaber der Kommandogewalt sollte der Entstehung einer neuen Dolchstoßlegende vorbeugen. Ausschlaggebend für den Ort der zweiten Kapitulationserklärung war der Wunsch Stalins, der die herausragende Rolle der Sowjetarmee am Sieg durch einen demonstrativen Akt im eigenen Machtbereich unterstreichen wollte. Die Alliierten folgten seinem Vorschlag, die Kapitulation am 8. Mai in Berlin zu wiederholen. Aus Flensburg wurden für diese Zeremonie der Chef des Oberkommandos der Wehrmacht, Generalfeldmarschall Keitel, der Befehlshaber der Luftflotte Reich, Generaloberst Stumpff, und der Befehlshaber der Marine, Generaladmiral v. Friedeburg, nach Berlin geflogen. Der Text der Urkunde über die bedingungslose Kapitulation der deutschen Streitkräfte, den sie nach Vorlage ihrer wiederum von Dönitz ausgestellten Vollmacht unterzeichneten, war identisch mit dem von Reims. 8. Mai, 23.01 Uhr, war auch hier genannt als Zeitpunkt für die Beendigung der Kampfhandlungen. Es stand dort so, obwohl die Unterzeichnung in Karlshorst erst am 9. Mai um 00.16 Uhr erfolgte, eine Stunde und 15 Minuten nach Inkrafttreten der Kapitulation. Die Prozedur war die gleiche wie in Reims. Für die Alliierten zeichneten gegen der Stellvertreter des Obersten Befehlshabers der Sowjetarmee Stalin, Marschall Shukow, und der Stellvertreter Eisenhowers, der britische Luftmarschall Tedder. Als Zeugen unterschrieben der französische General de Lattre de Tassigny und der Kommandierende General der amerikanischen Luftstreitkräfte Spaatz.
Das komplizierte Doppelspiel regt an zu Spekulationen über das Spannungsverhältnis zwischen historischer Tatsache und ihrer Wahrnehmung im historischen Bewußtsein. Es ist doch bemerkenswert. Alles, was nötig war zur Beendigung des Krieges durch die bedingungslose Kapitulation der Wehrmacht und den totalen Zusammenbruch des Hitlerfaschismus, war in der Nacht vom 6. zum 7. Mai 1945 in Reims geschehen. Es war besiegelt zwischen Jodl, Smith und Susloparow in einer Urkunde, die präzise die von den Deutschen zu erfüllenden Bedingungen auflistete, Strafmaßnahmen der Alliierten für den Fall der Verletzung dieser Bedingungen ankündigte und einer Ratifizierung im juristischen Sinne des Begriffs nicht bedurfte. Gleichwohl wird die Wiederholung dieses Aktes in Karlshorst, die keine Bedeutung für den tatsächlichen Ablauf der Dinge hatte, der sich abgespielt hätte, wie er sich abgespielt hat, auch wenn Keitel, Stumpff und Friedeburg nicht vor Shukow und Tedder unterschrieben hätten, weithin als die eigentliche Kapitulation wahrgenommen – nicht nur wie im Falle der erwähnten parteiischen Verzerrung.
Natürlich prägten die Umstände der für den tatsächlichen Hergang nicht »nötigen« Zeremonie in Karlshorst die Erfahrung der Zeitgenossen und das Geschichtsbewußtsein der folgenden Generationen in besonderer Weise. Es waren der Ort, die Hauptstadt des Reiches, Zentrum des nun geschlagenen verbrecherischen Regimes, die Konfrontation der kapitulierenden Befehlshaber der Hitlerwehrmacht mit einem der großen Heerführer an der Hauptfront des Krieges – Umstände, die der zweiten Kapitulation in der Erinnerung einen höheren Rang als der ersten zuwiesen. Die Wiedergabe des Fotos von der Unterschriftsleistung des monokel- und marschallstabbewehrten Keitel in vielen Veröffentlichungen, publikumswirksam besonders in Museen, während kein Bild von der Unterzeichnung in Reims gebracht wird, befestigte diese Wahrnehmung. Man ist erinnert an die Idee radikaler Postmodernisten, die in den letzten Jahren gelegentlich meinten, Geschichte solle nicht als Wirklichkeitswissen aufgefaßt werden, sondern als Betrachtung wechselnder Wahrnehmung.
Die Geschichte von den zwei Kapitulationen lenkt den Blick auf den rationellen Kern dieser Argumentation. Sie zeigt, wie wichtig es ist, unterschiedliche Wahrnehmungen verständlich zu machen.
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