von Peter Braune
Rudolf Hänel liegt am 6. Februar 1945 als Volkssturmmann in seinem Deckungsloch vor Crossen an der Oder und hat Zeit, an den Herrn Reichsminister und Chef der Reichskanzlei, Martin Bormann, »gehorsamst mit der Bitte um gefällige Kenntnisnahme« einen Stimmungsbericht zu schreiben. So ein Schreiben stand natürlich nicht jedem der sechs Millionen Männer der Jahrgänge 1884 bis 1924, später bis 1928, zu, die Bormann – ab Oktober 1944 als Reichsleiter und Chef der Parteikanzlei im Auftrage des »Führers« federführend in allen politischen und organisatorischen Aufgaben – in vier Aufgeboten den anrückenden Alliierten entgegenwerfen wollte. Rudolf Hänel war bis zum 29. Januar 1945 als Ministerialkanzleiobersekretär in der Reichskanzlei beschäftigt gewesen, wie aus einem Schreiben des Herrn Ministerialdirektors Dr. Meerwald an den Deutschen Volkssturm, Gau 3, Gaustabsführer zu Händen von Herrn SA-Oberführer Mahl in Berlin 20, Horst-Wessel-Haus hervorgeht, in dem das Abrücken des Hänel zu seiner Ortsgruppe der NSDAP nach Nauen vermeldet wurde.
Bormann wird über beide Schreiben erfreut gewesen sein, tragen doch beide sein Kürzel ohne Wiedervorlagevermerk. Ja, sein Rundschreiben an alle Obersten Reichsbehörden vom 3. November 1944 trug endlich Früchte. Dort hatte er angeordnet: »Die Volkssturmkompanien und -bataillone sind Einheiten der deutschen Volksgemeinschaft. In ihnen muß daher auch wirklich die Volksgemeinschaft sichtbaren Ausdruck finden. Das ist aber nur dann der Fall, wenn in den Volkssturmkompanien der Beamte neben dem Arbeiter, der Kaufmann neben dem Geistesarbeiter, der Handwerker neben dem Ministerialrat usw. steht. Sobald dagegen Kompanien gebildet würden, in denen nur die Angehörigen eines bestimmten Berufszweiges oder einer bestimmten Behörde zusammengefaßt sind, würden diese Einheiten ihren Charakter als Volkssturmkompanien verlieren. Diese Grundsätze verbieten natürlich auch die Bildung eigener Einheiten der Ministerien. Ich darf bitten, auch hiervon Kenntnis zu nehmen.«
Der Ministerialobersekretär Hänel und sein Abteilungsleiter Ministerialdirektor Dr. Meerwald hatten dem Gauleiter von Berlin, Dr. Josef Goebbels und seinem Stellvertreter, dem SA-Oberführer Mahl, eine Nase gedreht. Diese beiden Herren wollten ganz eigenmächtig ihre Gefolgschaftsmitglieder in Behörden und Verwaltungen nicht an deren Herkunftsortsgruppen, verstreut über das ganze Reich, zum Volkssturm abgeben, sondern eigene Betriebs- und Behördenkampftruppen aufstellen.
Überhaupt nahmen überall Eigenmächtigkeiten der Gauleiter, anderer Dienststellen und besonders der Chefs der Rüstungsindustrie seit dem Führererlaß zur Bildung des Deutschen Volkssturms vom 25. September 1944, zu. Martin Bormann hatte alle Hände voll zu tun. Anordnung folgte auf Anordnung:
14. Oktober 1944: Der Volkssturm ist eine Parteisache; infolgedessen kommt die Bestimmung eines Federführenden Reichsverteidigungskommissars nicht in Betracht.
19. Oktober 1944: Außer meiner Dienststelle ist keine Reichsleitungsdienststelle berechtigt, direkte Weisungen an den Deutschen Volkssturm zu geben, ausgenommen der Reichsführer SS in seiner Eigenschaft als Befehlshaber des Ersatzheeres für die militärischen Belange.
27. Oktober 1944: Die Angehörigen des Jahrganges 1928 sind bis zum 31.3.45 in den Wehrertüchtigungslagern der Hitler-Jugend und durch den Reichsarbeitsdienst militärisch auszubilden. Die Führer der HJ werden wie alle Gliederungsführer ihren Fähigkeiten entsprechend im Deutschen Volkssturm eingesetzt.
1. November 1944: Die derzeitige Lage auf dem Gebiet der Tabakversorgung gestattet es nicht, den Volkssturmsoldaten außerhalb des Kampfeinsatzes zusätzliche Mengen an Tabak zu geben. Ich bitte daher, von Anträgen an die Reichsstelle Tabak und Kaffee abzusehen und bereits gestellte Anträge nicht weiter zu verfolgen.
3. November 1944: Das 1. Aufgebot des Deutschen Volkssturms erfaßt alle zum Kampfeinsatz tauglichen Angehörigen der Jahrgänge 1924-1884. Die Gauleiter veranlassen für alle Männer, die wegen ihrer Tätigkeit in lebenswichtigen Aufgaben nicht zum 1. Aufgebot herangezogen werden können, eine Z-Karte [Zuteilungskarte] der am Wohnsitz zuständigen Kreiskommission zu übersenden. Die Zahl der Männer, für die eine Z-Karte ausgefertigt wird, darf im allgemeinen 50 % der im Gau zur Erfassung im Deutschen Volkssturm in Betracht kommenden Männer nicht übersteigen.
4. November 1944: Die Angehörigen des Volkssturms müssen sich selber verpflegen oder bei Gemeinschaftsverpflegung Lebensmittelmarken abgeben.
18. November 1944: Die Dienststellen des Deutschen Volkssturms führen Briefbogen nach dem beigefügten Muster. Eine Verwendung von Briefbogen anderer Organisationen ist untersagt. Die Herstellung der Briefbogen und Briefköpfe ist durch die zuständige Gauleitung zu veranlassen.
4. Dezember 1944: Die Dienstgradabzeichen werden beiderseitig auf schwarzen Spiegeln getragen. Die Spiegel sind in der Größe 5 x 6 cm, rechteckig auf schwarzem Stoff, mit behelfsmäßigen Mitteln aus Stoffresten usw. herzustellen; sie werden zentral nicht geliefert. Die Kreisfrauenschaftsleiterinnen erhalten durch die Reichsfrauenführung genaue Anweisung und Schriftmuster.
9. Dezember 1944: Ausländer und Staatenlose, die sich auf Grund stammesgleicher Abstammung (z. B. Niederländer, Dänen, Flamen, Wallonen und Norweger) oder auf Grund ihrer Bereitschaft zum Kampf für das neue Europa freiwillig zum Deutschen Volkssturm melden, können aufgenommen werden. Juden und Zigeuner sowie deren Mischlinge 1. Grades und die mit ihnen Verheirateten werden zum Deutschen Volkssturm nicht erfaßt.
13. Dezember 1944: Allgemeiner Volkssturmdienst – Er soll einschließlich An- und Abmarschweg von und zur Wohnung der Volkssturmsoldaten sechs Stunden nicht überschreiten. Es ist nichts dagegen einzuwenden, z. B. durch fliegende Ausbildungskommandos die Einzelausbildung an der Waffe im Betriebe oder an der Arbeitsstelle zu betreiben, falls sich hierzu günstige Gelegenheiten bieten z. B. in Feierschichten usw.
Immer noch aus seinem Deckungsloch heraus bittet unser Ministerialobersekretär seinen Dienstherren zunächst, »gütigst zu entschuldigen«, daß er sich vor seinem »plötzlichen Abrücken von Berlin von der Reichskanzlei zu Teilen nicht verabschieden konnte«. Nach dreitägiger Ausbildung in Jüterbog und Baudach (Mark) »ging es dann am 30. 1. im Fußmarsch in die Nähe von Crossen. Die Kompanien wurden dann zu Teilen abgezweigt und dem Landesschützenbataillon im Vorfeld von Crossen unterstellt. Da Gefahr im Verzuge war, wurden die Kompanien im Vorfeld der Hauptkampflinie eingesetzt. Ausgerüstet mit Gewehr und Panzerfäusten. Russische Panzerspitzen waren bereits gemeldet. Ich selbst hatte 2 Panzerfäuste reserviert, um beim eventuellen Angriff mein Deckungsloch zu besetzen. Es ist aber nicht zum Angriff gekommen, denn der Feind ist nach Nordwesten abgedreht. Wahrscheinlich hatte er Wind vom Volkssturm.« Hänel, nun Ordonnanz-Offizier beim Volkssturmbataillon I Weber, schließt seinen Brief: »Ich könnte noch mehr schreiben. So geht es mir gut und ich bin stolz darauf, daß ich das Glück hatte, als einer der ersten von der Reichskanzlei mit dem Volkssturm auszurücken, um die Heimat verteidigen zu helfen. Ich habe auch die Absicht, beim Bataillon zu bleiben. Heil Hitler!«
Ob ihm Martin Bormann durch ein Antwortschreiben für seinen Einsatz dankte, wird aus den Akten des Bundesarchivs nicht ersichtlich. Bormann benötigte offensichtlich seine Zeit für die Ausarbeitung des Anhangs zur Strafrechtsverordnung vom 23. Februar 1945: Betrifft Volkssturm: Das Gnadenrecht üben aus der Führer und nach seinen Weisungen der Reichsführer SS.
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