von Gerhard Wagner
Der englische Regisseur Carol Reed drehte 1948 nach einem Skript von Graham Greene im noch stark zerbombten Wien den Kriminalfilm Der dritte Mann. Einer der wichtigsten Drehorte war das Nachtlokal Orient am Tiefen Graben. Wie ein weiterer Drehort, das legendäre Hotel Sacher – das damals noch halbzerstört war, provisorisch als alliierte Offiziersunterkunft und Casino diente –, bot es mit seinem Ambiente konservierte k. u. k. Vergangenheit, das heißt: das gängige, operettenhafte Bild von »Alt-Wien«. Ein Bild, dem Reed und sein Kameramann Robert Krasker jetzt die Realität des zerstörten, bedrückenden Nachkriegs- Wiens bar jeder falschen Größe, jeden täuschenden Schimmers entgegensetzten – vermittelt über schräge Kameraperspektiven und grelle Lichteinfälle, über die Dramaturgien des Scheintodes und des hektischen Versteckspiels. Und über das eindringliche »Zithern« von Anton Karas – dürrer, monoton auf- und abschwellender Nachhall seliger Walzerträume.
Die handlungstragende Suche des Western-Schriftstellers Rollo Martins (Joseph Cotten) nach seinem alten Schulfreund Harry Lime (Orson Wells), der mit Hilfe eines »dritten Manns« einen tödlichen Unfall vorgetäuscht hat, um der Polizei zu entkommen, vollzieht sich zwischen Postgasse und Dominikanerbastei – sowohl in einem architektonischen Labyrinth als auch in einem politisch-administrativen Sektorengebilde mit vielen Schlupfwinkeln. Darauf weisen zu Beginn Dokumentarfilmsequenzen hin: Nach dem Krieg war Wien vollständig besetzt, ab dem 13. April durch die Rote Armee, ab Ende des Monats auch von der US-Army. Die Alliierten, die Sowjetunion, die USA, Großbritannien und Frankreich, teilten sich bald die Verwaltung der Stadtbezirke. Den 1. Bezirk allerdings, das Herz der einstigen Jahrhundertmetropole, begrenzt durch Ringstraße und Donaukanal, kontrollierten sie mittels ihrer »Internationalen Polizei« bis Anfang der fünfziger Jahre gemeinsam.
In einer Nebenhandlung, aber unübersehbar, gibt der ein Jahr nach Einführung des Marshall-Plans für Österreich entstandene Film darum auch Einblicke in massenmediale Darstellungsmuster während des Kalten Krieges, in dem Wien Nachrichtenumschlag- und Tummelplatz westlicher und östlicher Geheimdienste war: Die Siegermacht Großbritannien wird vor allem durch einen nun bei der Militärpolizei dienenden Scotland-Yard-Offizier (Trevor Howard) repräsentiert, der rechtschaffen und beflissen gegen Lime ermittelt, den Kopf einer Bande, die mit Zucker verdünntes Penicillin verschiebt, und in deren Machenschaften auch (von einstigen Ufa- und Theatergrößen wie Paul Hörbiger, Erich Ponto und Ernst Deutsch dargestellt) Wiener Ehrenmänner verwickelt sind. Und die Siegermacht Sowjetunion? Sie dagegen, deren Rote Armee am 29. März 1945 die österreichischen Grenzen als Befreierin überschritten hatte, ist im Film fast nur durch einen klischeehaft-grobschlächtig gezeichneten »Verbindungsoffizier« gegenwärtig, zuständig für die Koordination zwischen Militär und Geheimdienst. Er läßt Anna Schmidt, die tschechische Geliebte Harry Limes und baldige Vertraute des Schriftstellers (Alida Valli), die ohne Aufenthaltsgenehmigung für Wien ist und sich weigert, Lime zu verraten, prompt verhaften.
Aber Wien ist hier nicht nur Handlungs- und Dialogmilieu mit einem beinahe naiven, an Freundschaft und Gerechtigkeit glaubenden Helden. Wien ist auch todessymbolischer Schatzbildner. Das wird vor allem an den Sequenzen mit dem vom englischen Ingenieur Walter Basset 1896/97 konstruierten, 1945 ausgebrannten, 1947 wieder errichteten stahlgrauen Riesenrad im damals öden Wiener Prater deutlich. Dieses »Wahrzeichen« beschwört im Filmkontext die bekannte Metapher vom »Räderwerk« der Geschichte und seinem unerbittlichen »Lauf«, auch die vom »Feuerrad« der »Maschinerie« des gerade beendeten Weltkriegs herauf. In einer der Gondeln spielt die Regie daher nicht nur mit der Tötungsgefahr, sondern läßt Harry seine zynische Moral vom Morden als Naturgesetzlichkeit, Fortschritts- und Zivilisationsbedingung, vom Morden auf Entfernung deklarieren; eine Moral, auf die sich schon Hitler berief. Orson Wells schrieb diesen Monolog selbst und ließ ihn nachträglich in das Filmskript einfügen: »Und sei nicht so trübsinnig – es ist alles nur halb so schlimm. Denk’ d’ran, was Mussolini gesagt hat: In den dreißig Jahren unter den Borgias hat es nur Krieg gegeben, Terror, Mord und Blut. Aber dafür gab es Michelangelo, Leonardo da Vinci und die Renaissance. In der Schweiz herrschte brüderliche Liebe – 500 Jahre Demokratie und Frieden. Und was haben wir davon? Die Kuckucksuhr.«
Hier oben, auf der höchsten Stelle des stählernen Rades, erreicht der Film seinen Umschlagspunkt: Es endet die seit Kindertagen währende Freundschaft, es geht – im wörtlichen und im übertragenen Sinne – abwärts. Denn Carol Reed zeigt nun eine architektonische Unterwelt, die auf das noch nahe Inferno verweist: Die Wiener Kanalisation war für viele die letzte Zuflucht vor dem kalten Winter – und dem Luftkrieg. Im Januar 1943 hatten Winston Churchill und Franklin D. Roosevelt in Casablanca jene Flächenbombardements beschlossen, die dann auch die südliche Wiener Neustadt mit ihren Ölraffinerien, Bahnanlagen und Rüstungsbetrieben trafen, aber auch Zivilisten, von denen viele mit »Volksgasmasken« und »Kübelspritzen« den von britischen und nordafrikanischen Basen aus operierenden Bomberstaffeln der 15. US-Luftwaffendivision zu trotzen versuchten. Vergeblich rüstete sich die »Ostmark« in Wien mit 500 Flugabwehrkanonen auf Bunkertürmen, hüllte sich, »Sperriegel« schießend, in schwarze Wolken. Als diese sich endgültig verzogen hatten, standen 600 Abschüssen 120 000 Tonnen abgeworfene Sprengbomben und 600 000 zerstörte Wohnungen gegenüber.
Rollo Martins hilft am Schluß, den lichtscheuen Nachkriegsgewinnler Harry Lime in der Wiener Kanalisations-Unterwelt zur Strecke zu bringen. Aber der Typus Harry Lime – Demagoge und Zyniker, Betrüger und Mörder in einem – ist nie wirklich gestorben. Auch daran erinnert heute, sechzig Jahre nach der Befreiung Wiens von der Naziherrschaft, dieser Filmklassiker mit einer »häßlichen Geschichte« im Geist des westeuropäischen Nachkriegs-Realismus: »grausam, traurig und ohne erlösenden Humor«, wie sein Drehbuchautor schrieb.
Schlagwörter: Gerhard Wagner