von André Hagel
Wer sich in den vergangenen Wochen kreuz und quer durch Nordrhein-Westfalen bewegte – das seine Politiker immer wieder (wie weiland auch die in der DDR) so gerne auf drei Buchstaben reduzieren –, wurde selbst als stark Kurzsichtiger auf den Umstand gestoßen, daß Wahlkampf tobte. Der Baumbestand mag auch im bevölkerungsreichsten Bundesland allgemein abnehmen – hierdurch verursachte Lücken in der Landschaft wurden kurzerhand mit neu entstehenden Wäldern aus Wahlplakaten aufgefüllt. Wobei sogar niemandem der Unterschied zwischen kernigem Holz und leichtgewichtiger Pappe aufzufallen schien. Hauptsache: groß. Und plakativ. Im wahrsten Sinne des Wortes.
Früher, es ist schon einige Jahre her, habe ich die Politiker, die anläßlich von Wahlen unbändig erpicht darauf waren, Volkes Stimme zu hören und Wählers Stimme zu bekommen, beim gebrochenen Wort genommen und meinen Stimm- und Stimmenzettel mit wohlfeilen urdemokratischen Botschaften an die Mächtigen versehen. »Wer lügt, muß zurücktreten!«, »Rücken Sie Ihre schwarzen Koffer raus!« und ähnliches schrieb ich in der Hoffnung, von dem einen oder anderen Adressaten vielleicht eine Antwort auf meine Vorstöße zu erhalten. Doch selbst bestgemeinte und absolut FDGO-kompatible Stimmzettelhinweise wie »Sind Sie sich bewußt, daß Nichtwähler in zunehmendem Maße Nichtmehrwähler sind? Was gedenken Sie als verantwortliche Verursacher dagegen zu tun?« blieben ohne Resonanz. Die einzige Antwort, die ich am Wahlsonntag ab 18 Uhr bekam, waren eher kalt gehaltene televisionäre Hochrechnungen mit den Endergebnissen der Wahlschlacht, die dem einen den Endsieg, dem anderen den Endsiech bescherten – und mir Hilfsschüler-Wählerlein einmal mehr die Einsicht, daß in der marktwirtschaftlich geschulten Parteiendemokratie keinesfalls automatisch der Beste das Rennen macht, sondern nicht selten der, der am nachhaltigsten bis dato heilige demokratische Kühe schlachtet.
Seitdem beschränke ich mich bei Wahlen auf das staatsbürgerlich Übliche, versuche herauszufinden, was und wer das kleinere oder sogar kleinstmögliche Übel sein könnte und studiere zu diesem Behuf ausgiebig Wahlplakate samt ihrer programmatischen Aussagen, da man an Infoständen von Parteien schon seit langem nicht mehr damit rechnen darf, quasi selbstverständlich ein ausführliches Wahlprogramm in die Hand gedrückt zu bekommen.
Ihre Ideen für die NRW-Landtagswahl hatten die großen Volksparteien mit den immer kleiner werdenden Mitgliederzahlen sich diesmal im Fitneßstudio geholt. Neue Kraft. Neue Ideen versprach die CDU mit dem gar nicht mehr so neuen Jürgen Rüttgers an der Spitze und suchte so den geistigen Spagat zwischen eiweißgefüttertem Body-workout und Gehirnzellentraining à la Einstein. Die in ihrer Dominanz bedrohte SPD konterte mit Stärker werden. Menschlich bleiben – also mit Autosuggestion, verpaart mit einem starken Schuß Arbeiterwohlfahrt.
Dräute der pfützentiefe politisch-gesellschaftliche Diskurs der Vorwahlwochen einmal in intellektuell-argumentative Sackgassen zu geraten, behalfen sich die C-Demokraten, die neuerdings wieder einmal den Gekreuzigten im leitkulturellen Vormarschgepäck bei sich führen, gerne mit einem Rückgriff auf unkeusche Urinstinkte jedermanns: Sie ejakulierten ein geradezu orgiastisches NRW kommt wieder! so sehr in die Landschaft, daß man in Deckung ging.
Der nordrhein-westfälische Nordlicht-Import-Ministerpräsident Peer Steinbrück, von einer prognostizierten Wahlschlappe geplagt, drohte im Gegenzug mit Der Kündigungsschutz bleibt – was so viel bedeutete wie: »Mich werdet ihr nicht los.«
Auch die kleineren Parteien zeigten sich rührig. Sie wollen den Großen in nichts nachstehen und setzen mitunter sogar noch eins drauf. Indem die Partei der Besserverdienenden ihre Kandidaten sich der Hartz-IV-Gebeutelten annehmen ließ, zeigte sie geradezu überraschend viel Herz mit staatlich alimentierten Geringstverdienern: Freiheit zieht an. Ziehen sie mit! grüßten sie die Schar der Deklassierten und machten ihnen mit einem freundlichen liberalen (Volks-)Vertreter-Lächeln den anstehenden Zwangswohnungswechsel schmackhaft: Der soziale Abstieg – ein Trip ins Abenteuerland der Freiheit! Wer mag da noch widerstehen? Geschweige denn aufrechtgehen?
Jenseits der Zecheneinzugsgebiete warb die kleine FDP mit dem Großplakat-Slogan Kinder fördern statt Steinkohle, was mich unwillkürlich darüber nachsinnen ließ, wo in den tief in die Erde gegrabenen dunklen Stollen wohl die zu fördernden Kinder zu finden seien, die bekanntlich auch dem kohleschwarzen Konkurrenzkollegen Rüttgers seinerzeit lieber gewesen waren als braunhäutige Inder. Solche kleinen Ausrutscher des hoffnungsfrohen Ministerpräsidenten-Aspiranten ins Bräunelnde sind übrigens in NRW längst vergessen und verziehen. Schließlich erinnert sich auch in Bayern niemand mehr an Ede Stoibers rassig-rasante Warnung vor einer »durchrassten Gesellschaft«.
Jeder Politicker hat eben seinen ganz eigenen Tick. Die Grünen, die vor der Landtagswahl auf ihren Plakaten ein Safer Shoppen ohne Gen-Tech ausriefen, hätten zugleich Anglismen-Kondome verteilen sollen. Übertroffen wurde der Unfug nur noch durch ihre Forderung Mehr grüne Playstations! Bei mir erzeugte sie die Assoziation mit ökologisch-gewaltfreien Kampfhunden: Die wollen auch immer nur spielen.
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