von Jörn Schütrumpf
Vor siebzig Jahren, im Frühjahr 1935, herrschte in Deutschland eine Diktatur, die sich gegenüber vielen späteren Diktaturen in Lateinamerika und Afrika beinahe moderat ausnahm: wenige tausend politische Gefangene; ein paar Dutzend ermordete politische Gegner; alles mehr oder minder gut von einem neuartigen »Doppelstaat« kontrolliert, bestehend aus einem überkommenen und ausdifferenzierten Rechtsstaat einerseits und andererseits aus einem fast unsichtbaren Terrorstaat, der die Zuständigkeit zumeist nur dann an sich riß, »wenn es politisch wurde«. Gewiß: keine Idylle, aber auch nicht die Hölle, noch nicht.
Zumal nach 1933 sich auch die kapitalistische Wirtschaft wieder zu rappeln schien. Seit der Jahrhundertwende hatte es in der Weltwirtschaft gekriselt, weil die Kapitalverwertung lahmte: Einer gewaltigen Akkumulation standen überall begrenzte Absatzmärkte gegenüber. Der Weltkrieg 1914 bis 1918, von allen Seiten jeweils auf Kosten des anderen als Ausweg herbeigeträumt, hatte die Probleme keineswegs zu lösen vermocht, sondern nur weiter zugespitzt. Mitten im Kollaps der Weltwirtschaftskrise hatte es einen Moment lang sogar so ausgesehen, als wenn sich der Jüngste Tag dieser Produktionsweise ankündigt.
Doch auch die »totengräbernde« Arbeiterbewegung, ein Kind dieses jetzt ins Straucheln geratenen Kapitalismus, delirierte seit dem Weltkriege zwischen Sinnsuche und Spaltung; sie war letztlich nur noch wenig mehr als ein Koloß auf tönernen Füßen. Für die einst mächtige und stolze deutsche Arbeiterbewegung benötigten die Nationalsozialisten lediglich drei Fußtritte: 27. Februar – Reichstagsbrand, 23. März – Ermächtigungsgesetz, 2. Mai – Zerschlagung der Gewerkschaften.
In allen Staaten mit bürgerlich-kapitalistischem Zuschnitt wurde seit spätestens 1910 nach einem Ausweg aus den Akkumulationsproblemen gesucht. Modell 1: Rußland. Hier war nach 1917 mit einem Parteisozialismus ein Gegenmodell entstanden, das allerdings schnell das gegenteilige Problem produziert hatte: Unterakkumulation bei wachsenden unbefriedigten Absatzmärkten – und das deshalb mit einer ursprünglichen Akkumulation gerettet werden sollte. Modell 2: USA. Während des New Deal wurden Lohnerhöhungen, die Massennachfrage und Massenproduktion à la Ford auslösten, mit Sozialstaatspolitik und staatlichen Konjunkturspritzen verbunden; es formierte sich ein für alle gesellschaftlichen Schichten attraktiver Massenkonsumkapitalismus – ein Modell, das bis heute immer noch nicht vollständig zu Grabe getragen ist. Modell 3: Deutschland. Hier vereinbarten die Spitzen des Großkapitals mit den Spitzen des Nationalsozialismus, den Ausweg in einer abermaligen Aufrüstung zu suchen – also eine imperialistische Lösung, die absichtsvoll in die Barbarei des Zweiten Weltkrieges führte und die von allen deutschen »Eliten«, nicht nur denen des Industrie- und Finanzkapitals, gewollt wurde. Die deutsche Gesellschaft leistet sich diese »Eliten« bis heute, seit 1990 auch wieder in Deutsch-Nordost.
Mit dem primitiven Versuch, Verwertungsproblemen durch Raubkriege zu entkommen, bewegten sich die Naziführung und ihre »elitären« Bundesgenossen noch im Rahmen von Gesellschaften, in denen das Profitprinzip dominiert. Doch Hitler und die Seinen waren nicht angetreten, um die deutschen Akkumulationsprobleme zu beseitigen; bestenfalls sollten die »auf dem Wege« miterledigt werden. Denn die Naziführer waren keine »Marionetten des Monopolkapitals«. Sie entstammten dem sozialen Strandgut, das der Weltkrieg hinterlassen und dem die Reichswehr den Weg in die Politik finanziert und geebnet hatte – jene Reichswehr, die 1918 von den konterrevolutionären Führern der Mehrheits-SPD mit lebenserhaltenden Maßnahmen vorm sicheren Untergang bewahrt worden war. (Himmler bedankte sich nach 1933 bei Noske dafür mit einer Sonderpension.)
Die jeglicher Nestwärme beraubten Naziführer träumten davon, die kapitalistische Klassengesellschaft in eine auf Sklaverei beruhende rassistisch und sozialdarwinistisch organisierte Gesellschaft umzubauen. Entscheidende Schritte dahin unternahmen sie 1935, als die Frage unausweichlich wurde: Wie weiter mit den Konzentrationslagern?
Der Arbeiterbewegung und der Freimaurerei waren das Genick gebrochen; für die Niederhaltung des verbliebenen Widerstands genügten Polizei, Justiz und Zuchthäuser allemal. Trotzdem entschied die Naziführung, neue großflächige Lager wie Sachsenhausen und Buchenwald anzulegen – bestimmt für Juden (deren staatsterroristische Drangsalierung im Herbst 1935 mit den Nürnberger Rassegesetzen einen weiteren Schub erhielt), für als »Zigeuner« diffamierte Sinti und Roma, für »Berufskriminelle«, für »Asoziale« und für Homosexuelle.
Nach dem Überfall auf die Sowjetunion im Juni 1941 gewannen die Pläne zur »Neuordnung Europas« an Gestalt. Das zweieinhalbtausend Jahre alte christlich-jüdisch-abendländische Europa mit seiner eigenwilligen sprachlichen, kulturellen und künstlerischen Vielfalt sollte nun unwiederbringlich zertreten und zu einem nach rassistischen und sozialdarwinistischen Prinzipien gegliederten »Raum Europa« umgeformt werden. Beherrscht von – noch zu züchtenden – »Herrenmenschen«, sollten in einem ewigen Krieg immer neue »Untermenschen« unterworfen werden, wobei es galt, sowohl »besonders Heimtückische« als auch »Parasiten« wie Juden, Sinti, Roma, Polen und Tschechen auszurotten. Die »Endlösung der Tschechenfrage« sofort nach dem »Endsieg« hatte Heydrich bereits 1941 angekündigt.
Auschwitz und Lebensborn waren zwei Seiten einer Medaille – hier Ausrottung, dort Züchtung. In den Nationalpolitischen Erziehungsanstalten und in den Adolf-Hitler-Schulen fand die »Euthanasie« – also die Hinmordung »lebensunwerten Lebens« mit Hilfe deutscher und österreichischer Spitzenmediziner – letzten Endes nur ihre »Ergänzung«.
Der 8. Mai 1945 markiert nicht weniger als die Rückkehr Europas auf den Pfad der Zivilisation, aus dem dieser Kontinent dank der Unfähigkeit der deutschen Gesellschaft, mit dem 20. Jahrhundert zurechtzukommen, dauerhaft hinausgeschleudert werden sollte. Ohne die Soldaten der Roten Armee und ohne das Standhalten der Völker der Sowjetunion, über die Deutsche unermeßliches Leid gebracht hatten, wäre für lange Zeit kein westalliierter Soldat in der Lage gewesen, seinen Fuß dauerhaft auf das europäische Festland zu setzen. Und: Ohne die Siege und ohne die Opfer der Soldaten der Roten Armee, unabhängig davon, was sie dachten und was sie den Deutschen antaten, und auch unabhängig davon, was ihre im eigenen Lande massenmordende Führung alles verbrach, wären viele der heute lebenden Europäer nie geboren worden. Weil ihren Eltern und Großeltern das Recht auf Leben abgesprochen war.
Jeder Deutsche, der noch einen Funken Anstand im Leib hat, sollte wenigstens am 8. Mai 2005 in sich gehen und den Dank an die Soldaten der Roten Armee dafür zulassen, an diesem Morgen nicht dem gierig-geilen Blick des Blockwarts ausgesetzt gewesen zu sein – von allem anderen ganz zu schweigen. Daß die deutschen »Eliten« unfähig sind, eine solche Forderung auch nur im Ansatz zu begreifen, sollte niemanden zu sehr aufregen. Sie kennen keinen Anstand.
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