Des Blättchens 8. Jahrgang (VIII), Berlin, 11. April 2005, Heft 8

Ronda, Rilke, Romero

von Renate Hoffmann

Noch säumt Mimosengebüsch die Küstenstraße an der andalusischen Costa del Sol. Noch weht vom Wasser her feuchtwarme Morgenluft aufs Land. Dann strebt der Weg, bei Marbella fast rechtwinklig abbiegend, in die Berge. Höher, höher. Schluchten tun sich auf, ihre Schroffheit vom Mimosengelb und Zistrosenweiß gemildert. Dunst des Meeres tastet in den Tälern. Wo der Blick weit schweifen kann, ragt ein x-förmiges, von Rost überzogenes Gebilde himmelwärts. Auf einem Stein Worte von Rainer Maria Rilke. »Nacht« und »Stille« lassen sich entziffern.
Ronda, die Stadt auf dem Fels-Plateau, wie aus einer Saga hochsteigend, hat viele Namen: »Die schöne Verschleierte«, »Traumstadt«, »Stadt der Toreros und Poeten«. Sie sei »eine Frau« und »eine Legende«. Legendär – weil sich die Besiedelung bis in dämmernde Anfänge der Menschheitsgeschichte nachweisen läßt.
Straßen und Gassen sind von weißen oder blaßockergelben Häusern bestanden. Ihre Fenster tragen Gitter zur Zierde, die Schattenmuster auf Fassaden werfen. In Rottönen schwelgende Geranien lugen durch das arabeske Gitterwerk und streben in die Tiefe. Rosen ranken empor. Hohe Mauern wehren der Neugier. Findet man doch ein angelehntes Pförtchen, so hebt sich der Schleier vor Lichthöfen im Schmuck bunter Fliesen, den Azulejos, vor kühlen, stillen Wandelgängen und Paradiesgärtchen. Von diesen Oasen gleitet das Auge über eine tief untenliegende Ebene zu den Bergen der Serrania de Ronda hinüber.
In die Altstadt. An Palästen und Plätscherbrunnen vorüber. In Kirchen, in denen sich maurische und spanische Kunstformen mischen, und Weihrauch feine Duftbahnen zieht. Aus den Straßenbäumen leuchten Orangen. Ernest Hemingway »entdeckte« die Stadt 1923 und kehrte des öfteren wieder. Er besang ihre Vorzüge in seinem Buch Tod am Nachmittag: »Ronda hat alles, was man sich für einen … Aufenthalt wünscht, romantische Szenerie, … wunderbare, kurze Spaziergänge, guten Wein, herrliche Fischgerichte, ein ausgezeichnetes Hotel.« Dieses Hotel sei gut geführt, und nachts wehe dort gewöhnlich eine kühle Brise.
Das Hotel Reina Victoria, Stadt und zuträgliche Luft pries vor Hemingway ein anderer, überaus Empfindsamer. Rainer Maria Rilke (1875-1926). Im Herbst 1912 begab er sich auf eine Spanienreise. Erstlich vom Gedanken getrieben, El Grecos Bilderwelt zu erleben. Über Toledo, Cordoba und Sevilla erreichte er am 9. Dezember Ronda. Dieser Besuch und längeres Verweilen in der Stadt waren so nicht vorgesehen und vom Zufall bestimmt. An den Verleger und Freund Anton Kippenberg schreibt Rilke (18. Dezember 1912): »… es trifft sich wunderbar, dass ich Ronda gefunden habe, in dem alles Erwünschte sich zusammenfasst: die spanischste Ortschaft, phantastisch und überaus großartig auf zwei enorme steile Gebirgsmassive hinaufgehäuft, die die enge Schlucht des Guadalevin auseinanderschneidet; die starke reine Luft, die über das weithin geöffnete, von Feldern, Steineichen und Ölbäumen freundlich ausgenutzte Flußtal … herüberweht; schließlich das bequeme, geläufige Hotel, in dem ich vor der Hand sogar ganz allein bin.«
Rilke blieb bis zum 18. Februar 1913 im Hause Reina Victoria. Die Umgebung tat ihm wohl, regte ihn an. »Wenn ich am Morgen aufwache, so liegt vor meinem offenen Fenster im reinen Raum, ausgeruht, das Gebirg«, teilt er Lou Andreas-Salomé (1861-1937), der Vertrauten, mit.
Rilkes Zimmer im Reina Victoria liegt unterm Dach. Mit der Nummer 208 versehen, ist es zu seinem Gedenken eingerichtet und zugänglich. Ein kleiner, sparsam ausgestatteter Raum. Schreibtisch, zwei Sessel, Bücherschrank, Vitrinen. Auf dem Kamin angestaubte, künstliche Rosen und eine Uhr, der der Minutenzeiger fehlt. In den Schaukästen Briefe und aufgeschlagene Gedichtbände. Darin immer wiederkehrend – das Motiv der Rose. Fotos aus verschiedenen Lebensaltern des Dichters. Eine für ihn ausgestellte Hotelrechnung. Und das Programm der Gedächtnisfeier für Rilke; »Sonntag, den 23. Jänner 1927. Die Schauspieler im Theater der Josefstadt (Wien, d. A.) unter der Führung von Max Reinhardt.«
Im Zimmer atmet man Geruch selten gelüfteter Räume. Unter dem Fenster löst sich die schwarzfleckige Tapete. Doch die Sicht hinaus auf die westlich gelagerten Berge ist unsagbar schön.
Im Hotelgarten, großzügig gestaltet, ein wenig »angewildert« und bis zum Felsabsturz vorgeschoben, steht, in Bronze gegossen, Rainer Maria Rilkes schmale Gestalt. Eine Tafel trägt Verszeilen aus seiner Spanischen Trilogie. »… aus diesem Fluß im Talgrund, der den Schein / zerrissner Himmels-Lichtung fängt – (und mir); / aus mir und alledem ein einzig Ding / zu machen, Herr: aus mir und dem Gefühl …«

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Vom Hotel Reina Victoria die abwärtsführende Straße hinunter, an der Avenida Poeta Rilke vorbei, zur Stierkampfarena. Ernest Hemingway ist zu vertrauen, wenn er sagt: »Um zum erstenmal einen Stierkampf zu sehen, gibt es einen idealen Ort in Spanien … die Stadt Ronda.« Hinzugefügt sei: und ihre Plaza de Toros. Der weiße Rundbau, hinter dessen prächtigem Hauptportal sich die gelbstrahlende Arena öffnet. Eine Vielzahl zierlicher Sandsteinsäulen stützt zwei umlaufende Ränge. Man vermeint, das Aufrauschen gebündelter Rufe von den Galerien zu hören.
Bereits 1782 werden in der Arena, obwohl baulich noch nicht vollendet, Stierkämpfe abgehalten, bei denen die Brüder Pedro und José Romero mitwirken. Zwei Jahre später – noch immer ist der Kampfplatz eine Baustelle – geschieht während der Eröffnung der Stierkampf-Saison ein großes Malheur. Am 11. Mai 1784 gegen 15 Uhr 30 lehnt sich der Milizionär Isidoro Espinosa im gesperrten Baubereich an eine Säule. Sie hält nicht stand. Wankt, stürzt – Dach und Gebäudeteile stürzen hinterher. Panik, wildes Gedränge, Entsetzen, Klagegeschrei … Den »Säulenheiligen« Isidoro findet man unter den Toten. Endlich, am 19. Mai des Folgejahres, erhält die Plaza de Toros feierlich mit allen Ehren, bei gefüllten Rängen, ihre Weihe.
Auch Pedro Romero (1754-1839) nimmt am festlichen Auftakt teil. Bereits in dritter Generation vertritt er Würde und Ansehen seiner Familie, die als erste Stierkämpfer-Dynastie Rondas gilt. Francisco, der Großvater, soll den Kampf zu Fuß, Mann gegen Stier, eingeführt haben, der vor ihm zu Pferd ausgetragen wurde. Pedro, der Enkel, steigt zur bedeutenden Persönlichkeit der Romeros, Rondas und des spanischen Stierkampfes – der Corrida – auf. Ruhe, Gelassenheit, Geschick und Eleganz sagt man ihm nach, im Umgang mit dem Kampfstier. Es gäbe kein Tier, das ihm hätte Schwierigkeiten bereiten können. Mehr als 5000 Stiere habe der Matador getötet, ohne je ernsthaft Schaden zu nehmen. Man überträgt Pedro Romero die Gründung von Stierkämpfer-Schulen in Ronda und Sevilla. Der Ehre nicht genug. Oden sind ihm zugeeignet. Und Francisco José Goya porträtiert den Vierzigjährigen. Das Gemälde zeigt ein verhaltenes, beherrschtes Antlitz, für das die Charakteristik der »edlen Züge« wohl taugt. Erstaunen jedoch über den Blick Pedro Romeros, der Sanftmut und ein wenig Traurigkeit kundtut. Carlos Fuentes (*1928), vielgereister mexikanischer Autor, schreibt: »Wie immer das Gesicht des Matadors an diesem Nachmittag aussehen mag, man erinnert sich stets an den Inbegriff des Stierkämpfers, Pedro Romero, wie Goya ihn gemalt hat.«