Des Blättchens 8. Jahrgang (VIII), Berlin, 11. April 2005, Heft 8

DDR-Kubaner

von Wolfram Adolphi

Es sprechen, sagt mir mein Baedeker-Allianz-Reiseführer aus dem Jahre 2001, »viele Kubaner«, darunter »besonders Reiseleiter und Hotelangestellte«, »auch gut Deutsch«, und zwar »aufgrund der früheren Beziehungen zur ehemaligen DDR«.
Diese »früheren Beziehungen zur ehemaligen DDR« brachten am letzten Tag der diesjährigen Buchmesse von Havanna unter strahlend wärmender Februarsonne um die fünfzig kubanische »Ehemalige« zusammen: im Lesesaal José Lézama Lima, benannt nach einem der größten kubanischen Dichter, eingerichtet im ehemaligen Gotteshaus der früheren spanischen Hafenfestung Fortaleza de San Carlos de la Cabaña – einer heute unschuldig über der Stadt gelegenen romantischen Anlage, die in der Gesamtheit ihrer Gewölbe, grob gepflasterten Gassen und Freiflächen traditionelles Domizil dieses Volksfestes Buchmesse ist.
Ja, sie sprachen »auch gut Deutsch«, diese fünfzig Frauen und Männer weißer und brauner und schwarzer Hautfarbe – so gut, daß die Veranstaltung ganz und gar in deutscher Sprache stattfinden konnte. Und es waren gewiß auch ein paar »Reiseleiter und Hotelangestellte« unter ihnen. Aber die, die sich zu Wort meldeten, um über ihre DDR-Erfahrungen zu berichten, waren anderes: Ärzte, Chemiearbeiter, Außenhändler, Landmaschinenschlosser, Germanisten, Automechaniker. Sie sprachen über Leipzig und Zeitz, Leuna und Dresden, Wittenberge und Eisenach. Sie erzählten von Lehrausbildung und Studium, Ferienfahrten und Gewerkschaftsfeiern, gestrengen Internatsleitern und milden Professoren. Und dann, als es nicht mehr gar so öffentlich war, auch über Eifersucht und Kneipenschlägereien, Liebe und Rassismus, Glück und Trennungsschmerz.
Ende 1960 sind die ersten von später insgesamt rund 35000 Kubanerinnen und Kubanern in die DDR gekommen. Am Anfang waren es vor allem Studentinnen und Studenten. Später – in den Siebzigern – folgten Arbeiterinnen und Arbeiter. Mit einem von den Letzteren habe ich während der Buchmesse öfter zusammengesessen. Seine Erinnerungen aus insgesamt acht Jahren in der DDR-Industrie sind dazu angetan, einen prallen Roman zu füllen. Da ist – zum Beispiel – die in Kuba getroffene Vorbereitung auf den DDR-Aufenthalt, die so viel an Politischem und Landeskundlichem und an Benimmregeln enthält und am Ende in der Gruppe junger Männer doch vor allem eine Sehnsucht entfacht: Es gibt dort an der Ostsee FKK! Und dann – an einem Herbsttag, wie er grauer nicht sein kann und den sonnengewohnten Kubanern buchstäblich den letzten Funken Frohsinn raubt – die erste Begegnung mit dem Betreuer im Werk. Der ist – ganz anders, als sie das erwartet hatten – nicht mehr jung, die Stimmung sinkt weiter, und plötzlich spricht dieser Mann Spanisch und ist voller Temperament und erzählt ihnen von seinen Jahren als Kämpfer für die Verteidigung der Republik im Spanienkrieg.
Später verschlägt es unseren Mann in die Boxstaffel der Betriebssportgemeinschaft und zum Ernteeinsatz, sie fahren ins Erzgebirge in den ersten Schnee ihres Lebens, sie beherrschen die Ballsäle der Dorfgasthöfe, und sie erleben, was es auf sich hat mit »deutscher Pünktlichkeit« und damit, wenn man anderen in dieser Gegend »nicht in den Streifen paßt«.
Viele der fünfzig, die der Einladung der Rosa-Luxemburg-Stiftung zum Treffen auf der Buchmesse gefolgt sind, sehen in ihren DDR-Jahren eine besonders schöne Zeit ihres Lebens. Sie haben diese Zeit genossen, und sie genießen die Erinnerung daran. So sehr, daß sie auch eine längere Anreise nicht scheuen. Ein Automechaniker, der eine Betriebszeitung der Eisenacher Motorenwerke von 1978 mitgebracht hat, hat im Radio vom Stattfinden unseres Treffens erfahren und sich schon früh um fünf auf den Weg zur Buchmesse gemacht. Lourdes, die in Leipzig ausgebildete Journalistin und Hochschullehrerin, ist froh darüber, daß sich ihre Anstrengungen gelohnt haben: Sie hatte mich ein paar Mal in die Mittagssendungen regionaler Rundfunkstationen geholt, und wir hatten zweisprachig für unser Vorhaben geworben.
Warum dieses Treffen denn erst so spät stattfinde, werde ich von den Versammelten gefragt – schon fünfzehn Jahre seien doch seit dem Verschwinden der DDR vergangen. Ich kann als Antwort nur geben, daß die Rosa-Luxemburg-Stiftung erst seit 1999 existiert, zudem unter den parteinahen Stiftungen Deutschlands die kleinste ist und auch erst seit wenigen Jahren Auslandsprojekte bewerkstelligen kann. Jemand von der deutschen Botschaft in Kuba, der vielleicht ausführlicher Auskunft geben könnte, ist nicht zugegen – wohl, weil auch in diesem Jahr wieder das »offizielle« Deutschland von der Buchmesse insgesamt nichts wissen wollte.
»Warum reden Sie nicht gleich richtig deutsch mit mir?« fragt, als wir nach der Buchmesse noch ein paar Tage im Lande unterwegs sind, der Betreiber des Imbißstands eines Bus-Terminals auf unser geradebrechtes Spanisch hin, und schnell merken wir, daß wir es hier mit einem der im Reiseführer gemeinten DDR-Kubaner im Gastgewerbe zu tun haben. Es sieht indes nicht so aus, als sei die kleine Gastronomie schon immer der Beruf des Mannes gewesen. Eher schon scheint er zu denjenigen zu gehören, deren in der DDR erworbene Qualifikation durch den plötzlichen und ersatzlosen Abbruch der Wirtschaftsbeziehungen DDR-Kuba vor fünfzehn Jahren obsolet geworden ist. Zu weiterem Nachfragen fehlt jedoch diesmal die Zeit. Nur zu ahnen ist, was es da noch an unerzählten Geschichten gibt – und an unerzählter Geschichte.