von Mario Keßler
Er hat das Jahrhundert der Katastrophen zur Gänze durchmessen, und er hat die Katastrophen am eigenen Leib zu spüren bekommen. Von Hitler und von Stalin verfolgt, mußte er beinahe ein Menschenalter lang das Leben eines Ausgestoßenen führen. All das konnte ihn weder brechen noch sein gütiges, durch und durch humanes Wesen zerstören: Das Schicksal des Agrarwissenschaftlers Nathan Steinberger wurde 1996 durch sein Erinnerungsbuch Berlin-Moskau-Kolyma und zurück einer größeren Öffentlichkeit in Ost und West bekannt.
Geboren wurde Nathan Steinberger in Berlin, dort wuchs er in einer streng religiös geprägten jüdischen Familie in bescheidensten Verhältnissen auf. Zu Hause sprach Nathan Jiddisch, doch nahm er seit frühester Jugend regen Anteil an der linken deutschen Kultur, die in der Weimarer Republik eine kurze Blütezeit erlebte. Über die jüdische Jugendbewegung kam er zum Sozialistischen Schülerbund, der unter dem Einfluß der KPD stand. Doch so wie der junge Nathan von der jüdischen Orthodoxie abgerückt war, ohne seine Verbindung zum Judentum jemals aufzugeben oder auch nur kleinzureden, so ergriff er für die Idee des Kommunismus Partei, ohne sich in die Zwänge der KPD-Orthodoxie zu begeben. Die Folge war: Als Anhänger des undogmatischen Marxisten Karl Korsch wurde er, soeben sechzehn Jahre alt geworden, aus der kommunistischen Schülerorganisation entfernt. Korschs Freund Arthur Rosenberg, dem Nathan Steinberger von seinem Entschluß, in der Sowjetunion zu studieren, erzählte, riet ihm ab. Doch Steinberger, inzwischen KPD-Mitglied, hielt sich nicht an den Rat: 1932 ging der Student der Nationalökonomie als Stipendiat nach Moskau ans Internationale Agrarinstitut.
Dort wurde er 1935 mit einer Schrift über die Agrarpolitik des Nationalsozialismus promoviert. Die Einladung nach Moskau hatte ein anderer bedeutender Kommunist (und künftig prominenter Antikommunist) organisiert: Karl August Wittfogel.
Vom wohlgelittenen ausländischen Experten wurden der vom Hitler-Regime ausgebürgerte Steinberger und seine junge Frau Edith ab 1933 zu geduldeten Flüchtlingen; im Jahr 1937, dem Jahr des großen Terrors, dann zu hilflosen Verfolgten. Beide gerieten in die Fänge des sowjetischen Geheimdienstes. Ihre 1935 geborene Tochter Marianne wurde von ihnen auf Jahre hinaus getrennt, wuchs bei einer russischen Familie auf. Edith wurde nach Karaganda in Kasachstan deportiert, Nathan nach Ostsibirien. Bis 1946 blieb er dort in Haft, danach konnte er als »auf ewig Verbannter« in Magadan leben, wo er als Angestellter in einer Reparaturwerkstatt arbeiten durfte, die für die Ausrüstung der Geologen zu sorgen hatte. 1946 konnte seine Frau zu ihm ziehen und seine Tochter ihn später längere Zeit besuchen.
Erst nach dem XX. Parteitag der KPdSU wurden die Steinbergers befreit und rehabilitiert. Sie entschieden sich für die DDR. In Berlin traten sie sofort der Jüdischen Gemeinde bei. Dies stand für Nathan Steinberger in keinem Widerspruch zu seiner sozialistischen Überzeugung, die ihm Stalin nicht hatte nehmen können. Nach den schrecklichen Erfahrungen der jüngsten Vergangenheit sah er einen eigenständigen Verband von Juden, gleich ob religiös oder nicht, als notwendig an, »um sich als Mensch gegenüber der Umwelt zu behaupten«, wie er in seinen Erinnerungen festhielt.
Beruflich arbeitete Nathan Steinberger zunächst in der Staatlichen Plankommission. Diese Arbeitsstelle hatte ihm Grete Wittkowski vermittelt, die damals Erste Stellvertretende Vorsitzende dieses wichtigen Gremiums war. Sie war auch 1960 maßgeblich an der Berufung Steinberges zum Professor an die Agrarhochschule Meißen beteiligt. Drei Jahre später wechselte er an die Hochschule für Ökonomie nach Berlin.
Auch nach der Emeritierung blieb Nathan Steinberger nicht untätig. Er nahm auf nationalen und internationalen Kongressen zu wirtschaftspolitischen Fragen Stellung, und in den achtziger Jahren tat er etwas für die DDR sehr Atypisches: Er nahm ein Angebot des Theologieprofessors Heinrich Fink an, in der Humboldt-Universität auch über Probleme der Sowjetunion zu sprechen. Dabei informierte er die Studenten, die noch nie ein Stalin-Opfer bewußt gesehen haben dürften, auch über seine Lagerhaft in der UdSSR.
Er reiste regelmäßig in den Westen, wo er unter anderem zu zwei Freunden noch aus der Zeit der Weimarer Republik engen Kontakt unterhielt: den beiden, in der DDR nicht wohlgelittenen kritischen Linken Ossip Flechtheim und Theodor Bergmann, die, nach langer Exilzeit, inzwischen Hochschullehrer in Westberlin und Stuttgart-Hohenheim geworden waren. In der DDR gehörte Fritz Behrens, der ihm Einblick in seine (dann postum veröffentlichten) Aufzeichnungen gab, ebenso zu seinen Vertrauten wie Ernst Engelberg. Da ein Bruder Steinbergers in Brüssel die Zeit der Nazibesetzung überleben konnte – ein anderer Bruder wurde allerdings ermordet –, ergab sich die Gelegenheit der Kontaktaufnahme und alsbald reger Diskussionen mit dem trotzkistischen Wirtschaftswissenschaftler Ernest Mandel, der nicht in die DDR einreisen durfte.
1988 nahm Nathan Steinberger, ohne um Genehmigung bei den DDR-Offiziellen nachzusuchen (die ihm verweigert worden wäre), am internationalen Kongreß an der Universität Wuppertal teil, der sich mit Leben und Leistung von Nikolai Bucharin befaßte. In Wuppertal sprach er ein öffentliches Urteil über die Natur des Stalinismus, wie es nie zuvor ein DDR-Bürger im Westen öffentlich formuliert hatte: »Im Zuge des Vernichtungsfeldzugs, den Stalin angeblich gegen die Kulakenklasse, tatsächlich aber gegen das bäuerliche Eigentum insgesamt und gegen die überwältigende Mehrheit der arbeitenden Bauern führte, wurden der Mechanismus und die Methoden des Terrorsystems entwickelt, das wenige Jahre danach zur völligen Liquidierung der in der Oktoberrevolution errungenen Arbeiterdemokratie und zur Austilgung der revolutionären Kader eingesetzt und dem in der Folge alle Bereiche des gesellschaftlichen Lebens unterworfen wurden. Der Stalinsche Absolutismus hatte seinen Ausgangspunkt in der Kollektivierung.«
Auf der Feier aus Anlaß seines 94. Geburtstages sprach Nathan Steinberger im Juli 2004 die Hoffnung aus, seine hier im Hause der Familie Fink versammelten Freunde mögen auch dann ihren Zusammenhalt bewahren, wenn er nicht mehr sei. Freundschaft, Solidarität und die Hoffnung, der humane Gehalt des Sozialismus werde sich stärker erweisen als der inhumane Stalinismus; sie hätten ihm geholfen, alle Prüfungen seines langen Lebens zu bestehen. Dies auszusprechen, läge ihm sehr am Herzen, da es sein letzter Geburtstag sei. Leider behielt er mit dieser Vorahnung recht. Am 26. Februar ist Nathan Steinberger im Heinrich-Grüber-Haus in Berlin verstorben.
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