Des Blättchens 8. Jahrgang (VIII), Berlin, 14. März 2005, Heft 6

Nachbefruchter und andere

von Wolfgang Sabath

Ich weiß nicht, bei wie vielen Lesern der Titel des neuen Buches von Christoph Dieckmann noch jenen Erinnerungseffekt auslösen wird, der sie als erinnerungsbereite beziehungsweise -fähige Ex-DDRler outen würde: Vorwärts immer – rückwärts nimmer. Es ist nicht bekannt (oder ist es etwa doch bekannt?), welchem von Erich Honeckers Redenschreibern diese Floskel eingefallen war; aber immerhin hat sie ihren Verbreiter überlebt, wenn auch in unterschiedlichen Ausprägungen – jetzt also Christoph Dieckmanns neues Buch Rückwärts immer.
Um es gleich zu sagen: Mit dem DDR-biographischen Zonenkinderschrott der letzten vier, fünf Jahre, der mittels punktgenauer verlegerischer Marketing-Schlachten in die Schaufenster der Buchhandlungen, auf die Bestsellerlisten und ins Geschwätz-TV gespült wurde, mit Autoren, deren Agenten und Verleger dieses auf dem Markt unerläßlich feine Gespür dafür hatten, was gerade angesagt ist und was allgemein gehört werden will, hat dieses Buch nichts zu tun. Absolut nichts.
Christoph Dieckmann, Jahrgang 1956, wuchs in einem Halberstädter Pfarrhaus auf. Als ich sein Buch zu lesen begann, wollte es der Zufall (so denn Zufälle überhaupt etwas zu wollen in der Lage sein können …), daß ich gerade tags zuvor die ungemein fesselnde Familiengeschichte von Wibke Bruhns Meines Vaters Land zu Ende gelesen hatte, Hauptort des Geschehens: Halberstadt in Deutschland. Und nun also ohne dazwischengeschaltete Lesepause wieder Halberstadt, bis dato gemeinhin nur geläufig – und zwar in genau dieser Reihenfolge – als Würstchenstadt und Stadt eines Domes, des Domes, versteht sich.
Auch Dieckmann bekennt, das Buch von Wibke Bruhns elektrisiert gelesen zu haben. Es soll und kann hier nicht die Familiengeschichte der Dieckmanns referiert werden; aber ich bin in den vergangenen Jahren beim Lesen derartiger Erinnerungsbücher – der guten wie der schlechten – immer mehr zu der Auffassung gekommen, daß es relativ unwichtig ist, wie es wirklich war, wichtiger scheint zu sein, wie sich woran erinnert wird. Da hat man einfach zu akzeptieren, daß die Erinnerung an gleiche Abläufe oder Vorkommnisse und Begebenheiten sehr unterschiedlich ausfallen kann.
Rückwärts immer ist auch der Titel eines 140seitigen Essays, den Dieckmann extra für dieses Buch verfaßte. Die anderen Kapitel – Reportagen und Feuilletons – waren zuvor schon in der Zeit und im Freitag zu lesen. Dieckmann wuchs in einer mir sehr unbekannten Umgebung auf, für meinesgleichen war Pfarrhaus fremdes und, jawohl, auch gegnerisches Terrain. Das hatte allerdings nichts mit Zone oder DDR zu tun, sondern das war Familiengesetz; es gehörte sich so. Schon wegen der traditionellen Nähe von Kirche und Thron, Kirche und Staat, Kirche und Bürger- sowie Bäcker- und Fleischermeister. An unserer grundsätzlichen Familienhaltung in dieser Frage vermochte auch der Umstand nichts zu ändern (allerdings bin ich nie dahintergekommen, ob das stimmte oder nur eine schöne Anekdote war), daß die kinderreiche Großmutter, immer wenn der Kindesvater Zimmermann »auf Montage« war, den Dorfpfarrer heimlich zur Haustaufe lud. Will sagen: Pfarrhäuser und Pfarrerskinder – es hätte für mich nichts Fremderes geben können.
Doch, daß bei denen anders gedacht und geredet wurde, wußten wir natürlich, wir ahnten es zumindest. Und wer es nicht wußte oder ahnte, dem wurde es eindringlich beigebracht. Diese fremde Welt, und vor allem die damit verbundenen anderen Erfahrungen und Wertungen, machen das Buch für mich so interessant. Selbst auf die Gefahr hin, daß die Formel zu grobschlächtig gerät und dadurch fehlerhaft wird: Solche wie »die Dieckmanns« haben in der DDR gelitten (ja, ich weiß, ein in diesem konkreten Falle fast unstatthaftes Verb …); wir aber haben – natürlich nicht immer – an ihr gelitten. Das machte den Unterschied.
Der sich auch darin ausdrückte, daß an unserem Küchentisch das Wort Kommunist nicht hämebestückt war. Auffällig: Wenn bei Christoph Dieckmann von DDR-Funktionären die Rede ist, spricht er fast durchgängig von »SED-Kommunisten«. Ganz offensichtlich hatten er und seinesgleichen in den sie prägenden jungen Jahren nur mit der Spezies »Gehen Sie weiter, Bürger, die Fragen stellen wir!« zu tun. Die konnten ja nun wirklich insbesondere in der Provinz ziemlich unerträglich sein. Angesichts derer konnte für uns damalige Journalisten sogar Berlin, Hauptstadt der Deutschen Demokratischen Republik, geradezu als Hort von Freizügigkeit und Lockerheit erscheinen. Schade, Christoph Dieckmann sind offenbar nie jene begegnet, die sich aufgerieben haben, für die Sache, wie sie glaubten. Er traf nur auf SED-Kommunisten, durchweg ziemlich dümmlich und doktrinär. Aber wenn es doch in seinem Leben so gewesen ist …?
Das fällt auch darum auf, weil Dieckmanns Essay insgesamt und auch die anderen Texte des Buches von einer heute selten gewordenen Noblesse zeugen und darum vielleicht für jene Leser wichtig sein können, die sich all zu bereitwillig in ihren Ideologismen verheddern. Das setzt natürlich die Bereitschaft voraus, sich ab und an zu relativieren.
In dem Buch fand ich eine Metapher, die mir besonders gut gefiel: Er schreibt über den Fußballer Jürgen Sparwasser, der behauptet, das legendär gewordene Tor gegen die BRD habe ihm nur Ärger eingebracht, er sei von den Funktionären mißbraucht worden, »da wünscht, Sparwasser sein Tor gesamtdeutsch aufzubocken.« Und merkt an: »Solch opportunistischen Nachbefruchtern der eigenen Vergangenheit tritt die Geschichte gern vors Knie. … Stützte er nicht 1977 mit drei Treffern gegen Schalke abermals die Honecker-Diktatur?«
Höhepunkt in Christoph Dieckmanns Essay war für mich jedoch der Abschnitt über Günter Gaus. Der kann aber nicht referiert, der muß gelesen werden.

Christoph Dieckmann: Rückwärts immer. Deutsches Erinnern. Erzählungen und Reportagen, Ch. Links Verlag Berlin 2005, 272 Seiten, 17,90 Euro