Des Blättchens 8. Jahrgang (VIII), Berlin, 14. März 2005, Heft 6

Müde Toskaner?

von Erhard Crome

Was Forscher beziehungsweise Autoren und ihre Arbeitsgegenstände miteinander zu tun haben, ist wissenschaftshistorisch sicher ein Kapitel für sich. In der Geschichtswissenschaft wie in den Sozial- und Geisteswissenschaften reichen die Motive von Feindbeobachtung bis zu erklärter Liebe. Im Arbeitsprozeß aber gehen der Bearbeiter und das Objekt der Betrachtung eine geheimnisvolle Symbiose ein, in der beide nicht unverändert bleiben: So wurde Saulus, von der »Frohen Botschaft« erleuchtet, zum Paulus; George Orwell als Sozialist einer der folgenreichsten Ankläger des Stalinismus; oder Franz Mehring vom Kritiker zum Akteur der deutschen Sozialdemokratie. Oft aber bleibt die ursprüngliche Affinität bestehen, nur die Liebe veralltäglicht sich, wie man es von langen Ehen zuweilen behauptet. Dann wird ein Autor so eine Art Barometer der Liebe oder Haßliebe in bezug auf einen Gegenstand, auch wenn er zwischendurch über andere Dinge schreibt.
So ist der Göttinger Politikprofessor Franz Walter immer wieder auf die SPD zurückgekommen, auch wenn er zwischendurch über die FDP oder die »Heimatlosigkeit der Macht« schrieb. Walter ist Jahrgang 1956 und damit eine halbe Generation jünger als Schröder und seine Mit-68er. Insofern haben seine Texte den Vorteil, daß darin nicht nachträgliche Rechtfertigungen der eigenen Biographie die Fluchtschnur bilden.
Zusammen mit Peter Lösche, der gemeinhin als der Nestor der derzeitigen SPD-Forschung gilt, war Walter Anfang der 1990er Jahre Ko-Autor eines soliden Bandes über die Entwicklung der Sozialdemokratie »von Weimar bis zur deutschen Vereinigung«. Das damalige Fazit – die SPD hatte bekanntlich alle Bundestagswahlen nach Helmut Schmidt verloren – lautete, die Partei müsse »wenigstens teilweise ihre organisatorische Zerrissenheit« überwinden, auch zwischen den Wahlen die Bevölkerung anzusprechen vermögen und »sich politisch eindeutiger auf Machterwerb und Machterhalt orientieren«.
Das hat sie bekanntlich seit Lafontaine und vor allem mit Schröder und Müntefering erfolgreich getan. Walters Analyse der ersten Amtsperiode von Schröder wurde in einem Band über die SPD »vom Proletariat zur Neuen Mitte« 2002 vorgelegt. Die Folgerung hier war, daß »das Chaos von früher paradoxerweise die Grundlage für die Stabilität von heute« sei.
Doch er diagnostizierte zugleich, daß beide die Partei stillgelegt hatten, was nicht ohne Folgen bleibe: »(D)ie Stabilität von heute könnte morgen in die Depression führen. Denn in stillgelegten Parteien ist die programmatische Phantasie verschwunden, das Feuer des produktiven Streits erloschen, die rhetorische Kraft abhanden gekommen. Diese Partei fördert das Mittelmaß, den berechnenden und politisch übervorsichtigen Karrieristen, den Typus des selbstzufriedenen Jungabgeordneten mit Staatssekretärsambitionen. Abenteurer dagegen, kühne Vordenker, Politiker wie Lassalle, Bebel, Brandt, auch Lafontaine und Schröder bringt sie nicht mehr hervor. So ist es möglich, daß die Sozialdemokraten nach Schröder wohl einige tüchtige Kommunalpolitiker, fleißige Minister, ordentliche Staatssekretäre, auch sachkundige Referenten in ihren Reihen haben werden, aber niemanden mehr, der die Partei prägt, bindet und energisch nach vorne führt, der über eine neue, zeitgemäße sozialdemokratische Erzählung nachzudenken in der Lage ist, der Leitwolf sein will und sein kann.« Walter hatte das Buch kurz nach seinem Erscheinen in einer Diskussionsrunde jüngerer SPD-Abgeordneter, die die Zeitschrift Berliner Republik tragen, vorgestellt. Zu diesen Gedanken allerdings hatte jenes Auditorium damals nicht diskutieren wollen. Wahrscheinlich fühlten sie sich hier zutreffend charakterisiert.
Nun also ein neuer »Walter«, mit dem er diese Überlegungen fortsetzt. Es ist ein Essay-Band, der den Vorzug hat, daß die Gedanken pointiert und zugespitzt werden. Die Texte stammen aus den Jahren 1999 bis 2004. Ausgangspunkt ist der Befund, daß die Aktivisten der SPD noch heute die gleichen sind wie vor zwei Jahrzehnten, nur: Während sie damals um die Dreißig waren, sind sie jetzt um die Fünfzig. »Die jungen Himmelsstürmer von 1979 sind grau, müde und energielos geworden. Viel Power ist da nicht mehr. An Programmen für eine demokratisch-sozialistische Zukunft bastelt keiner; an die kühnen Alternativen sozialistischer Systemüberwindung glaubt niemand mehr im Ernst.« Walter macht deutlich, daß dies keine biologische Frage ist; im Hintergrund stehe, daß die Linke insgesamt seit den 1990er Jahren keine neuen Alternativen zu formulieren vermochte. »Die alten Parolen sind verbraucht, gescheitert, diskreditiert.« »Darin liegt die Chance für Schröder, die es für Schmidt nicht gab.« Die 68er, die jetzt regieren, haben keine Perspektive mehr nach Schröder. Ihre Zukunft hängt an seinem Erfolg.
In der Folge sind interessante Aussagen zu finden zum programmatischen Loch der »Neuen Mitte«, zum »Durchwursteln« und zum »Reform-Palaver«, zur anhaltenden »Leere der Linken«, zur »ausgebrannten Kanzlerpartei«. Mit Müntefering habe sie sich geändert. Es grassiere der »Abschied von der Toskana«. Den einst von den bürgerlichen Medien pejorativ verwendeten Toskana-Bezug auf die 68er Sozialdemokraten hat Walter nicht nur dem ganzen Band, sondern auch dem Schlußteil vorangestellt. Der Übergang zu Müntefering bedeute den Versuch, drei Aufgaben gleichzeitig zu lösen, die im Grunde im Widerspruch zueinander stehen: die SPD »regierungs- und zukunftsfähig« zu halten; ihr unter Schröder weitgehend abhanden gekommenes »heftiges Identitätsverlangen« zu stillen und die »abtrünnigen Wähler« zurückzuholen.
Das erscheint als eine Quadratur des Kreises. Die SPD-Basis ist weniger denn je von der Wirksamkeit und Gerechtigkeit staatlicher Entscheidungsvorgänge überzeugt. Seit 1990 hat die SPD etwa 300000 Mitglieder verloren, ein Drittel ihres ursprünglichen Mitgliederbestandes, darunter 125000 Mitglieder in der Ära Schröder. Allein im Jahre 2003 traten 40000 Sozialdemokraten aus der Partei aus.
Gibt es eine Perspektive? Im letzten Essay stellt Walter, nicht provokativ, eher analytisch die Frage nach einem »Linkspopulismus«. Bereits die »Abspaltung« der Grünen in den 1980er Jahren war in der SPD als »Spaltung des linken Lagers« verstanden worden. Die Grünen waren aber, so Walter, von Anfang an »ein sozialkulturell genuin bürgerliches Projekt«. Als bürgerliche Formation haben diese dann Erfolge in Wählerschichten erreicht, zu denen die SPD nie Zugang gefunden hätte. Dies erst habe die Wahlergebnisse für Rot-Grün 1998 und 2002 ermöglicht. Analog habe sich im bürgerlichen Lager der Rechtspopulismus ebenfalls längerfristig als Stärkung gezeigt: Schills Rechtspopulisten fungierten in Hamburg »als Zwischenwirt für die Wanderung der großstädtischen Unterschichten von der SPD in das bürgerliche Lager«.
Walter meint, die SPD müßte »über einen zugkräftigen, dynamischen, attraktiven Linkspopulismus im Grunde heilfroh« sein. Das würde »der deutschen Linken die Chance zurückgeben, entheimatete Wählerschichten zu erreichen, ohne die sie bei überregionalen Wahlen künftig nicht mehr mehrheitsfähig sein wird«. Der Punkt ist nur: Die »geeigneten Volkstribune für die politisch, ökonomisch und kulturell obdachlosen Menschen in den randständigen Trabantenvierteln der urbanen Zentren« sind weit und breit nicht zu sehen. Ehemalige brave Gewerkschaftsfunktionäre wie auch Intellektuelle sind nicht in der Lage, jene Menschen anzusprechen. Derzeit bewegt sich dort der Rechtspopulismus, inzwischen die Neonazis. Das ist nicht mehr Walters Thema. Er aber sagt, ein wirksamer Linkspopulismus würde dazu führen, daß »die Karten in der Republik in der Tat neu gemischt« werden. Da hat er recht. Aber so ganz ohne Programm geht das auch nicht.

Franz Walter: Abschied von der Toskana. Die SPD in der Ära Schröder, VS Verlag für Sozialwissenschaften Wiesbaden, 186 Seiten, 19,90 Euro