von Stefan Bollinger
In einem der schönsten jiddischen Witze, die mir je untergekommen sind, fordert ein Angeklagter, der Vater und Mutter erschlagen hat, vor Gericht für sich mildernde Umstände – er sei schließlich Vollwaise. So ähnlich verläuft heute der Streit um das Erinnern an den 8. Mai 1945: Tag der Befreiung oder Beginn neuer Willkür und Verbrechen. Immer mehr wird aus dem historischen Gedächtnis »Gitler kaputt!« verdrängt und mit »Frau komm« sowie dem »Uri, Uri« vergewaltigender und plündernder Rotarmisten überblendet.
Nicht länger die deutschen Verbrechen, sondern Flucht, Vertreibung sowie die zivilen deutschen Bombenopfer werden heute in den Mittelpunkt der Aufmerksamkeit und des Mitleidens gerückt. Ach ja – und dann gab’s da noch diese arme Juden, die ermordet, vergast und verbrannt wurden, wohl von Deutschen in Auschwitz?!
Dresden oder der Berliner Bezirk Zehlendorf-Steglitz zeigen – wie schon im Vorjahr der D-Day –, daß die Geschichte des Zweiten Weltkriegs und seines Endes massiv umgeschrieben werden. Vor zwanzig Jahren mühte sich ein Dr. Kohl »redlich« darum, deutsche Geschichte zu »normalisieren« und den US-Präsidenten in Bitburg zum Gedenken an alle deutschen Toten, egal ob Täter oder wirkliche Opfer, zu bewegen. Die Früchte erleben wir heute.
Das Infotainment-Gewitter zu NS-Zeit und Zweiter Weltkrieg à la Knopp verleiht so manchem Rülpser damaliger Politiker und ihrer Schäferhunde die Wichtigkeit einer Staatsaktion. Und verdeckt im Taumel zwischen (neuerdings) bunten Kriegsbildern und ritualisierter Antisemitismus/Holocaust-Betroffenheit die Grundfragen an den Faschismus – nach sozialökonomischen Verhältnissen, Steigbügelhaltern und Gewinnern von Arisierung und Krieg, nach Großmachtpolitik und Imperialismus. Lieber wird über Irrationalismus und pathologischen Wahn sinniert.
Eine Einsicht aus dem legendären und doch verdrängten Historikerstreit 1986/87 ist brandaktuell: Deutsche Politik und Gesellschaft waren und sind dreifach schuldig, wenn es um den Faschismus geht – die Bereitschaft, Hitler und seine Anhänger an die Macht zu hieven; nach 1945 die massive Verdrängung dieser Zeit; schließlich das Relativieren und Historisieren, vor allem durch die faktische Rechtfertigung des Faschismus als notwendiger Reaktion auf die bolschewistische Bedrohung.
Das ist – aber leider nicht einmal für alle Linken – das eigentlich gefährliche Problem. Mit dem Ende des Staatssozialismus ist jene Alternative zur Disposition gestellt worden, die mit ihrer sozialen und politischen Bewegung der natürliche Feind des Faschismus war: Sozialismus und kommunistische Bewegung. Der notwendige Bruch mit den Perversionen und Verbrechen des Stalinismus hat zunehmend verdeckt, daß auch der schlechteste Sozialismus den »Stachel des Humanismus« in sich trug (Erhard Eppler), der immer wieder zu linkem Widerstand und schließlich 1989 zu – allerdings erfolglosen – Reformversuchen führte.
Ende 2004 gab es einen kurzen Streit um das weitere Schicksal der einstigen Gauck-, respektive Birthler-Behörde, da sie zu Neujahr vom Bundesinnenminister zur Regierungs-Beauftragten für Kultur und Medien wechselte. Diskutiert wurden das Schicksal der Akten und der Zugang zu ihnen. Verdrängt wurde, daß sich diese Fragen mittlerweile weitgehend erledigt haben – sind doch die Betroffenen so oft durchleuchtet worden, daß die Akten kaum mehr für politische Auseinandersetzungen interessant sind. Hinzu kommt, daß bei den meisten das altersbedingte Ausscheiden aus Beruf und Öffentlichkeit absehbar ist.
Die Bundesregierung hat natürlich die wichtigere Seite dieses Aktenberges längst erkannt: ihren politischen Nutzen für die Delegitimierung der DDR auf Dauer. Es geht weniger um Personen, es geht um die politische, um die geschichtspolitische Dimension. Es soll langfristig jedes positive Erinnern an die DDR verhindert werden. Die zuständige Staatsministerin Christina Weiss verlangt deshalb »ein umfassendes Konzept zur erinnerungspolitischen Aufarbeitung der SED-Diktatur in ihrer ganzen Komplexität und zur Aufklärung über die Geschichte der DDR, unter besonderer Berücksichtigung von Widerstand und Opposition«.
Die beabsichtigte Zusammenlegung des Bereiches Bildung und Forschung der Behörde mit der Stiftung Aufarbeitung der SED-Diktatur kann von Amts wegen ein schlagkräftiges und finanziell gut abgesichertes Instrument schaffen, das die DDR-Forschung ebenso wie die entsprechende Geschichtspropaganda beherrscht. Zu berücksichtigen ist bei der Beurteilung einer solchen Großinstitution, daß weder im akademischen noch im außeruniversitären Bereich eine vergleichbare Institution existiert. Es verblieben lediglich das Zentrum für Zeitgeschichtliche Forschungen Potsdam, mit totalitarismustheoretischer Ausrichtung das Dresdner Hannah-Arendt-Institut für Totalitarismusforschung, der Forschungsverbund SED-Staat der Freien Universität Berlin und die Außenstelle des Instituts für Zeitgeschichte in Berlin.
Hinzu kommen wenige freie Vereine der 2. Wissenschaftskultur und die minimalen Potentiale im Umfeld der PDS-nahen Rosa-Luxemburg-Stiftung, die weitgehend als Publikationsplattform und als Ort politischer Bildung agiert und nur einen überschaubaren Personenkreis erreicht. Es ist abzusehen, wann diese alternative Wissenschaftskultur ganz verstummen wird, wenn nicht Geschichtspolitik und nötige (Mini-)Institutionen Teil alternativer, linker Politik werden.
Die Erinnerung an die DDR soll die an eine brutale Diktatur sein, gegen die sich die meisten zur Wehr gesetzt hatten. Das politische Ziel der Bundesregierung ist klar und unterscheidet sich kaum von dem Konservativer: Es soll die einstige Zusammenarbeit mit der SED vergessen gemacht werden. »Wir leben in Zeiten, in der die Rückschau auf die DDR-Geschichte in einem immer milderen Licht erscheint«, so die Ministerin. »Nur die Geschichtsmuseen, Gedenkstätten, Archive und Sammlungen sind in der Lage, diesem Prozess der Beschönigung die Sprache der Fakten entgegenzusetzen. Wir benötigen einen starken Geschichtsverbund, der die verriegelte Gesellschaft der DDR ganz ausleuchtet, den weltpolitischen Kontext einbezieht, der über Nischen ebenso aufklärt wie über Repression, die Rolle der Opposition und des Widerstandes in der Diktatur würdigt und das Regelwerk staatlicher Macht analysiert.«
Fast nur Ex-DDR-Intellektuelle können sich leidvoll der Hure Klio erinnern. Auch heute gilt: Geschichtspolitik zur Vergangenheitsbewältigung ist stets ins Machtkalkül eingebunden, um die Mächtigen und die herrschende Ordnung fest zu verankern und zu legitimieren. Unabhängig von persönlichen Intentionen der Wissenschaftler, ihren ideologischen Vorprägungen, dem Trend des (konservativen) Zeitgeists, den Mechanismen der Mittelvergabe und der Nachfrage der Medien wie Verlage, auch unabhängig von der Recherche der historischen Fakten geht es bei Zeitgeschichte immer um Gegenwart und Zukunft von Gesellschaften – heute um Sozialismus versus neoliberalen Kapitalismus. Der Faschismus hat inzwischen in Deutschland gute Aussicht auf mildernde Umstände.
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