von Walter Thomas Heyn
Hazloche u broche« ist jiddisch und bedeutet »Glück und Segen«. Per Verballhornung eingedeutscht, kennen wir dieses alte Sprichwort als »Hals- und Beinbruch«.
Beides – Glück und Segen und Hals- und Beinbruch – kommt reichlich vor in dem 1964 uraufgeführten amerikanischen Musical Anatevka (Der Fiedler auf dem Dach).
Anatevka? Diese ausgeleierte Geschichte von den armen Juden, die immer zu leiden hatten, die drangsaliert, fortgejagt, vertrieben, enteignet, entwürdigt wurden? Das kennen wir doch alles: hundertmal gelesen, tausendmal gehört, zehntausendmal durchgekaut. Und dann noch diese unerträgliche Hollywood-Musik, ein kommerzialisiertes Zerrbild wirklicher Folklore; das menschliche Schicksale verkleinert zum Bühnensong mit Show-Einlagen. Grauenvoll!
Anatevka? Dieses schmissige Musical über den witzigen alten Milchmann, der in jeder Lebenslage noch einen Spruch, ein Bibelzitat oder einen Witz auf den Lippen hat, und der das berühmte Lied Wenn ich einmal reich wäre singt?
Das Musical Anatevka von Joseph Stein (Buch) und Sheldon Harnick (Gesangstexte) mit der Musik von Jerry Bock hatte vor wenigen Tagen im Landestheater Neustrelitz Premiere.
Der Regisseur Jürgen Pöckel liefert eine stimmige, figurenbezogene und durchaus differenzierte Inszenierung ab. Er hielt es aber nicht für besonders notwendig, die spärlichen Text-Aussagen des Stückes zum Hintergrund der zaristischen Politik gegenüber den Juden zu verdeutlichen und auch im Programmheft findet sich darüber kein erklärendes Wort.
Der historische Prozeß, der in dem Stück beschrieben wird, beginnt nach der dritten Teilung Polens: Fünf Millionen Juden unterstehen ab sofort dem russischen Zaren. Obwohl die Juden 57 Prozent der Bevölkerung ausmachen (18 Prozent sind Russen, der Rest Polen, Litauer, Belorussen) und in fast allen Städten die Mehrheit der Bevölkerung bilden, werden sie am grausamsten unterdrückt. In der zaristischen Praxis ging das so: Entweder gaben die Behörden einen Ukas heraus, daß »Ruhe und Ordnung« zu herrschen habe. Dann war jede Art von Übergriffen verboten. Oder aber der Ukas lautete, daß »man dem berechtigten Zorn der unteren Schichten freien Lauf lassen möge«. In diesem Falle hatten Polizei und Armee Pogrome zu organisieren.
Das sind die Bedingungen für die Kultur der Schtetln, die bis heute von der Kraft und dem Überlebenswillen der Bewohner zeugt. Einziger Lichtblick im trüben Alltag waren die Feste, bei denen ausgiebig gesungen und getanzt wurde. Ein großer Teil der Lieder wurde von Tänzen umrahmt und von Füßestampfen, Händeklatschen und anderen körperlich-motorischen Impulsen begleitet. Träger dieser Kultur waren u. a. die Klezmorim, die Wandermusikanten, die es seit dem Mittelalter gibt. Sie entwickelten eine eigene Kultur der Improvisation und dabei entstand ein spezifisch jüdischer Ton, der bis in die Gegenwart nachwirkt. Die Lieder sind eine Folie, auf der der jeweilige Nutzer seine Intentionen ausdrücken, seine Emotionen erlebbar und nacherlebbar machen kann. Dies ist sicherlich der Hauptgrund für die weltweite Renaissance jiddischer Folklore in der Gegenwart.
In der Figur des Fiedlers auf dem Dach (Volker Frick) widerspiegeln sich diese Elemente immer wieder in leitmotivischer Form in der Bühnenhandlung. Die Glanzstücke des Abends sind Tevjes (Sigurd Karnetzki) Gespräche mit Gott, mit seiner granteligen Frau Golde (Bettina Mahr) und seine vergeblichen Versuche, die Tradition zu bewahren, also die Regeln der alten Zeit zu befolgen und in der Familie durchzusetzen. Darüber hinaus liefert er sich brillante Wortgefechte mit dem Wachtmeister (Günter Menzel) und natürlich zelebriert er wirkungsgewiß »sein« Lied. Aber: die drei Töchter des geplagten Vaters schlagen trotzdem alle aus der Art: Zeitel, die Älteste (Larysa Molnárová) will nicht den von der Heiratsvermittlerin Jente (die wunderbare Gabriele Borowy) ausgesuchten Fleischer Lazar Wolf (Andrew Costello), sondern den armen Schneider Mottel Kamzoil (Tomasz Dziecielski) heiraten, was Tevje zwingt, in einer großangelegten, wunderbar doppelbödigen Traumszene die tote Uroma Zeitel (Gabriele Thomann) aus dem Jenseits auferstehen zu lassen, um den neuen Schwiegersohn einzuführen, was wiederum zu einem handfesten Dorfkrach führt. Die zweite Tochter Hodel (Katharina Wingen) verliebt sich in den Lehrer und Sozialrevolutionär Perchik (Hardy Lang), dem sie nach seiner Verurteilung nach Sibirien folgt. Die dritte Tochter Chava (Rebekah Nye) heiratet gegen den erklärten Willen des Vaters den jungen Russen Fedja (Max Haupt) und konvertiert zum Christentum.
Insgesamt gelang es dem Darsteller-Ensemble fast durchgehend, die verzehrende Melancholie und zugleich die eindrucksvolle Kraft der Bockschen Musical-Melodien singend und tanzend ebenso zu erspüren, wie das »Lächeln unter Tränen« sicht- und hörbar zu machen, eine Bühnen-Tugend, die eine solche Geschichte unbedingt braucht, um nicht in den Kitsch abzugleiten.
Es sei an dieser Stelle auch auf die musikalischen Qualitäten des Orchesters hingewiesen: Der junge Dirigent Jens Troester lenkt die Musiker der Neubrandenburger Philharmonie souverän durch die stilistisch vielschichtige Partitur, er läßt sie in den Tänzen im Geiste des Chassidismus auftrumpfen, nimmt aber auch die stillen Töne ernst. Im Finale erreichen Solisten, Chor und Orchester unter seiner inspirierenden Stabführung eine beklemmende Intensität, die lange nachwirkt.
Die nächsten Vorstellungen: 20.3., 2.4., 23.4. jeweils 19.30 Uhr im Großen Haus des Landestheaters. Zu empfehlen ist das Öko-Hotel (10 Minuten Fußweg vom Theater).
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