Des Blättchens 8. Jahrgang (VIII), Berlin, 28. März 2005, Heft 7

Die Stadt im Vorurteil

von Mathias Iven, London

Kommt man als Tourist nach London, dann fallen einem bereits nach sehr kurzer Zeit drei Dinge auf: Die Stadt ist laut, kein Mensch scheint Zeit zu haben, und einfach alles ist furchtbar teuer – stimmt und stimmt auch wieder nicht …
Der Lärm. Ganz egal, wo man sich in der Stadt befindet: London lebt, London atmet, London bewegt sich. Und vielleicht wird man in keiner anderen Stadt der Welt so bewegt wie hier. Daß dieses Sich-Bewegen, dieses Sich-Verändern Lärm verursacht, daß man auf der Straße teilweise sein eigenes Wort nicht versteht, ist das eine; daß man sich aber nur ein paar Meter abseits, beispielsweise auf dem New Square, einige hundert Jahre zurückversetzt fühlt, daß man dort in manchen Augenblicken vermeint, die Stille hören zu können, das ist das andere …
Die Zeit. Will man gemütlich einen Spaziergang machen, sollte man sich eher in Richtung der teils weitläufigen Parks bewegen, denn ein beschaulich gedachter Einkaufsbummel kann schnell zu einer Art Hindernislauf werden: hier ein Passant, dort ein Kinderwagen, und schnell einmal über die Straße gehen … Die Wege aller Londoner – und der Touristen sowieso – scheinen sich auf die großen Hauptstraßen zu konzentrieren. Ob Oxford Street oder Tottenham Court Road, ob morgens um sieben, high noon oder spät in der Nacht: Unaufhörlich strömen die Menschen dahin. Die eindrucksvollen und bedeutungsschwangeren Plätze scheinen dem Außenstehenden nichts als Durchgangsstationen zu sein, die der Neuorientierung der Dahineilenden im Wirrwarr tausender von Straßen dienen. Aber selbst in diesem vermeintlichen Chaos, in den schier endlos erscheinenden Menschenmassen kann sich einem sehr schnell das Gegenteil offenbaren: Ohne den – auch für den Großteil der Londoner – obligatorischen Street Finder, den Stadtplan, der im handlichen A-5-Format auf knapp 400 Seiten die Stadt zu fassen sucht, scheint man aufgeschmissen, und plötzlich fühlt man sich unter Millionen von Menschen einsam und vergessen …
Die Preise. Wer aus Euro-Land auf die Insel kommt, sollte alles, was mit einer gewohnten, scheinbar »realen« Preisgestaltung zu tun hat, vergessen: Großbritannien, London zumal, hat eigene Maßstäbe. Aber keine Angst! Man muß sich nicht finanziell ruinieren, nur weil man einmal diese Stadt sehen will. Wenn es ums Essen geht, sollte die Scheu vor Restaurantketten, die die Londoner Versorgungsszenerie wesentlich prägen, einfach mal beiseite geschoben werden: ob Pizza Express, Nero oder Pret a Manger – dem Hunger kann man überall ohne Probleme zu Leibe rücken. Sein Geld sollte man lieber in die wirklichen Highlights investieren – und selbst die sind, wie zum Beispiel die großen Galerien, oft kostenlos zu besuchen. Was bleibt? Sicherlich kommen gerade die Musikliebhaber zu jeder Zeit auf ihre Kosten, denn wo sonst in der alten Welt kann man schon an einem Tag zwei oder drei hochkarätige Konzerte hören, Opern, Ballettaufführungen und Musicals mit Starbesetzung besuchen. Ob Kurt Masur, Lang Lang oder das Kronos-Quartett, ob Ricardo Muti, Vadim Repin oder Curtis Stigers – alle in einer Woche zu hören: In London ist das möglich …
Also, was sollen die Vorurteile – auch wenn sie zutreffen? London macht süchtig.