von F.-B. Habel
Auch wenn die Berlinale in diesem Jahr wieder an Umfang verloren hat, ist sie mit ihren sechs Sektionen noch immer eines der größten Filmfestivals der Welt und naturgemäß auch ein Podium für den deutschen Film. Da gab es manche Überraschung darüber, wie Filmtraditionen der verschiedenen deutschen Republiken hier zusammenfanden.
Im Panorama stellte Andreas Dresen, der zu Wendezeiten an der Babelsberger Filmhochschule »Konrad Wolf« absolvierte und sich zur Tradition der DEFA bekennt, seinen neuen Film Willenbrock vor. Ausgerechnet bei der Ufa hat er mit dieser Adaption eines Romans von Christoph Hein einen typischen »DEFA-Film« realisiert. Dresen läßt deutlich im Osten spielen, hat einen Blick fürs Detail und soziale Gegebenheiten. Ein Schwerenöter von Autohändler in Magdeburg steht im Mittelpunkt der Handlung. Bernd Willenbrock hat eine schöne Frau, seit Jahren eine Geliebte und verliebt sich doch wieder in eine Studentin. Plötzlich aber kommt ihm seine Selbstsicherheit abhanden, als er Opfer zweier Einbrüche wird. Alles läuft schief, und er weiß nicht warum. Dieser Film knüpft allerdings auch im Negativen an DEFA-Traditionen an. Trotz aller Genauigkeit hat man kein Zutrauen zu dem, was erzählt werden soll. Das Drehbuch von Laila Stieler reiht Episode an Episode: ein bißchen Sexkomödie, ein bißchen psychologische Studie, ein bißchen Krimi, ein bißchen Sozialkritik, aber nichts konsequent. Die vielen Bißchen häufen keinen Berg an, sondern erzeugen Achselzucken. Dresens Lieblingsschauspieler Axel Prahl spielt viel Teddybär-Charme mit Sorgenfalten, aber nicht so eindrucksvoll, daß man sich nicht auch einen anderen in dieser Rolle vorstellen könnte. Und Dagmar Manzel als Willenbrocks Geliebte Vera hätte man statt Michael Hammon einen Bildgestalter gewünscht, der bei der alten Ufa abgeguckt hätte, wie man Stars ins rechte Licht rückt.
Aus mehreren Filmen in der Tradition des antifaschistischen Films stach im Wettbewerb der Streifen Sophie Scholl – Die letzten Tage hervor, wenn er auch mit dem Preis für die beste Regie überbewertet wurde. Schon vor über zwanzig Jahren hatte Michael Verhoeven das Thema in Die weiße Rose aufgegriffen. Damals spielte sich Lena Stoltze als Sophie Scholl in die erste Reihe der deutschen Schauspielerinnen. Ähnliches ist nun Julia Jentsch gelungen. Autor Fred Breinersdorfer und Regisseur Marc Rothemund haben in ihrem fast kammerspielartigen Film die Person der Sophie Scholl in den Mittelpunkt gestellt. Julia Jentsch als Sophie brilliert, aber die anderen Mitglieder der Weißen Rose bleiben blaß. Eindrucksvoll sind die dichten Szenen, in denen sich Sophie Scholl gegenüber ihrem Vernehmer Mohr (Alexander Held) durch Menschlichkeit und Konsequenz behauptet. Sie entstanden nach den in DDR-Archiven wiederaufgefundenen Vernehmungsprotokollen, die wohl den Anlaß für den achtenswerten Film gaben.
Verstörend und von zweifelhafter Wirkung ist hingegen Rosa von Praunheims im Panorama gezeigter Dokumentarfilm Männer, Helden und schwule Nazis, der dem Phänomen nachgeht, daß Nazis damals wie heute überproportionalen Zulauf unter gleichgeschlechtlich liebenden Männern haben. Verschiedene Aspekte dieses Phänomens stellt er dar und gibt dabei schwulen Neonazis Gelegenheit, für ihre Standpunkte zu werben. Von den teilweise gar nicht mehr so jungen Männern wird die homophobe Politik neonazistischer Gruppierungen kleingeredet. Einer erklärt gar, wenn man es von ihm verlangt hätte, hätte er auch Anti-Schwulen-Plakate geklebt. Offenbar war Rosa von Praunheim froh, das Vertrauen seiner Gesprächspartner zu genießen und enthielt sich weitgehend kritischer Fragen.
Der Dokumentarfilmer Jochen Hick warf in seinem in Los Angeles gedrehten Film Cycles of Porn das Problem von bezahltem schwulen Sex auf, das er an einem besonders perfiden Beispiel festmachte. Junge promiske Männer können unentgeltlich in einem »Hotel« leben, wenn sie akzeptieren, daß sie in allen Räumen (auch und gerade auf der Toilette) von Kameras beobachtet werden, die ihr Tun ins Internet bringen. Da ihnen auch von der 7. Woche an im »Hotel« eine Krankenversicherung versprochen wird, ist für einige der Anreiz groß. Sie gehen dazu über, für die Voyeure ständig nackt herumzulaufen. Die Internet-Besucher erteilen ihnen Aufträge zu sexuellen Handlungen verschiedenster Art, auf die die Bewohner zwar nicht eingehen müssen. Da sie allerdings per Mouseclick abgewählt werden können und dann ihr Domizil verlassen müßten, sind sie bereit, sehr weit zu gehen. Hick ist in dieser Schilderung des »American Way of Life« durchaus freizügig und berührt dabei die Grenze zwischen Dokumentation und Voyeurismus.
Auch eine echte Hollywood-Produktion befand sich unter den deutschen Filmen dieser Berlinale. Kevin Spacey hat Beyond the Sea (nach Trenets Chanson La Mer) als Produzent, Regisseur und eigener Hauptdarsteller in den Babelsberger Studios realisiert. Er erzählt die Lebensgeschichte des fast vergessenen Pop-Sängers Bobby Darin, der als blutjunger Kerl Karriere machte. Hier liegt der Pferdefuß dieses ansonsten ganz unterhaltsamen Streifens, denn Kevin Spacey ist Mitte vierzig und hat bei allem Talent eine eher väterliche Ausstrahlung. Obwohl keine Szene in Deutschland spielt, sind immer wieder Potsdamer und Berliner Schauplätze auszumachen, nicht zuletzt die legendäre »Sonnenallee« – einst von Szenenbildner Lothar Holler auf dem DEFA-Gelände errichtet. Bei Ausstatter Andrew Laws stellt sie jetzt – nicht ganz überzeugend – eine Straße in der New Yorker Bronx dar. Um die Produktion hierher zu bekommen, hat das Land Brandenburg für den Erfolg des Streifens eine Bürgschaft von 4,5 Millionen Euro übernommen. Im Allgemeininteresse sollte man den Film sehen. Schließlich sind es unsere Steuergelder!
Ebenfalls bereits im Kino ist der deutsche Film Kammerflimmern. Hier wird – bewußt oder unbewußt – an einen alten DEFA-Film angeknüpft. In Mein lieber Robinson spielte Jan Bereska einen etwas verträumten Krankenfahrer, der in Dieter Franke einen väterlichen Kumpel hatte. Der Krankenfahrer Crash (Matthias Schweighöfer) in Hendrik Hölzemanns Regiedebüt ist dem Robinson in Melancholie und Neugierde durchaus verwandt. Sein Beifahrer ist ein junger, von Florian Lukas gespielter Bursche, der ab und an gern eine Line nimmt und damit gute Laune bekommt. Undenkbar, daß ein solches Verhalten unkommentiert und folgenlos in einem DEFA-Film gezeigt worden wäre. Doch Drogenkonsum gehört zur Freiheit!
Florian Lukas zählte auch zu den Hauptdarstellern des Wettbewerbsfilms mit dem internationalen Titel One Day In Europe. Genausogut hätte er den Titel eines DEFA-Episodenfilms tragen können: Verzeihung, sehen Sie Fußball? Damals wurde kleine Geschichten während des WM-Endspiels 1982 in einem Ostberliner Hochhaus erzählt. Der junge Regisseur Hannes Stöhr (noch mit seiner Nach-Wende-Komödie Berlin is in Germany in guter Erinnerung) geht gleich ins »Haus Europa«. Seinen Episodenfilm läßt er während eines fiktiven Pokal-Endspiels in Moskau, in Istanbul, im spanischen Santiago de Compostela und in Berlin spielen. Neben Einheimischen finden sich auch Reisende aus England, Ungarn und Frankreich unter den Protagonisten. Aus der Konfrontation der Nationalitäten entsteht viel Komik, die Stöhr allerdings auch durch ungebrochene Übernahme von Klischeevorstellungen über die einzelnen Völker bezieht.
In die Zeit, als Europa noch von Mauern und Stacheldraht geteilt war, führt der Dokumentarfilm Der irrationale Rest, der im Forum lief, und den von DEFA-Altmeister Kurt Maetzig ins Leben gerufenen Filmklub-Preis Don Quichote gewann. Regisseur Thorsten Trimpop ist Absolvent der Babelsberger Filmhochschule und stammt aus dem Sauerland. Er erzählt die Geschichte von den drei jungen Freunden Suse, Susanne und Matthias aus der DDR. Die beiden letzteren versuchen 1987 eine Republikflucht in der Grenze der damaligen CSSR zur BRD. Nach dem Scheitern folgen Stasi-Haft und Freikauf, aber auch das mulmige Gefühl untereinander, das ein Wiedersehen nach dem Mauerfall verhindert. Trimpop erzählt in Gesprächen mit den einzelnen viel über deutsche Geschichte. Dennoch fehlt etwas. Wie kam es dazu, daß die Jugendlichen sich von angepaßten Pionieren zu Leuten wandelten, die unbedingt wegwollten? Diese Geschichte bleibt unerzählt.
Von jungen Leuten, die auf ganz andere Art wegwollten, erzählt der Forum-Beitrag Weiße Raben – Alptraum Tschetschenien. Die frühere DEFA-Dramaturgin Tamara Trampe und der Filmemacher Johann Feindt haben über drei Jahre lang junge Russen und ihre Familien besucht, die vom Tschetschenien-Krieg betroffen waren. Ohne Wissen der Familien kamen die jungen Leute, die der Arbeitslosigkeit entrinnen wollten und sich freiwillig meldeten, in das »Krisengebiet« Tschetschenien, oder besser: an die Front. Petja kommt mit neunzehn Jahren als Krüppel zurück. Ihm fehlen ein Arm und ein Bein. Kiril kam in tschetschenische Gefangenschaft und konnte fliehen. Seine Erlebnisse, über die er nicht spricht, führten zu Traumata, ließen ihn zum Trinker und Vergewaltiger werden, eine Tatsache, die seine Mutter ins Grab bringt. Die Filmemacher geben keine Kommentare ab, aber trotz der Illusionen, die sich die Betroffenen machen, wächst die Einsicht, daß die Russen in einer neuen Diktatur angelangt sind.
Wie diskutiert man richtig? Wie kann man einen offenen, aber kontroversen Meinungsaustausch pflegen, ohne sein Gegenüber zu brüskieren? Das lernten die Westdeutschen in Kurzfilmen, wie sie in den ersten Nachkriegsjahren gezeigt wurden. Schließlich war man des Meinungsstreits seit 1933 entwöhnt. Heute wirkt komisch, was damals notwendig war. Die Retrospektive während der Berlinale zeigte unter anderem Wiederaufbaufilme aus beiden deutschen Republiken. Dabei erwies sich, daß auch DEFA-Dokumente wie Joop Huiskens legendärer Streifen Turbine 1 noch heute viel Wirklichkeit vermitteln können.
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