von Helmut Höge
Nachdem erst der Gouverneur des sibirischen Oblasts Swerdlowsk und dann auch der Botschafter Kasachstans in Berlin die arbeitslosen Deutschen, speziell die Rußlanddeutschen, aufgefordert hatten, zwecks Behebung ihres großen »Kadermangels« in Sibirien beziehungsweise Kasachstan spät, aber nicht zu spät doch wieder heimzukehren, legte das Zweite Deutsche Fernsehen nach – und schickte gleich zweimal zwei kinderreiche Familien aus Ost- und Westdeutschland, teilweise mit Hunden und rudimentären Russischkenntnissen ausgerüstet, in verschiedene dörfliche Ecken Sibiriens, wo sie sich nur mit einer an Hartz IV gemahnenden Mindestfinanzierung mehrere Monate lang durchschlagen mußten – bei Temperaturen weit unter der Gefühlskälte. Der nächste Sibirienlockruf kam jüngst, am 23. Oktober vom Gouverneur des Gebietes Nowosibirsk. Er richtete sich an den unternehmungslustigen Teil des deutschen Kapitals, dem die dortige Gebietsadministration exzellente Investitionsbedingungen verspricht: Steuervergünstigungen beim Ertrag, bei Immobilien und bei Grund und Boden sowie ein zunehmend freundlicheres Wirtschaftsrecht. Der Clou des Angebots: »Bei uns ist es verboten, mit sozialen Forderungen an Investoren heranzutreten.« Die Gebietsverwaltung gebe jährlich zehn Millionen Euro für die Zahlung der Zinsen von Investitionskrediten aus. Gouverneur Tolokonskij ließ nicht nur auf Deutsch Werbebroschüren, CDs und ein Video über seinen »dynamischen« Oblast in Berlin verteilen, sondern er eröffnete zusammen mit der Commerzbank AG jüngst eine »Nowosibirsker Wirtschaftswoche«, ihr Motto: »Sibirien – mit Zuversicht in die Zukunft sehen!«
Zwar konnte sich das Erste Deutsche Fernsehen noch nicht dazu durchringen, einen ebenfalls sehr werbewirksamen Film über die Geschichte und Gegenwart eines anderen ehemals sowjetischen Landesteils, nämlich der Krimfestung Sewastopol, vom Berliner Regisseur Kornel Miglus zu finanzieren; aber dennoch mehren sich Indizien, daß die Krim zum Anziehungspunkt abenteuer-heckender Deutscher werden könnte. Da gibt es zum Beispiel den ehemaligen »Wessi-Designer« Olaf, der dort eine Russin geheiratet und eine Touristenpension eröffnet hat. Ferner drang Kunde nach Berlin über den in Rente gegangenen Goldschmied aus dem Prenzlauer Berg, Reinhard, der dort mit zwei Ukrainerinnen lebt, die inzwischen beide von ihm ein Kind haben. Und nicht zu vergessen der einst regimeverfolgte Barkeeper Willi aus dem gleichen Kietz, der mit seinem 2CV ständig zwischen seiner Pferdefarm nahe Jalta und einer Berliner Einraumwohnung pendelt: Nicht zuletzt deswegen, weil seine geliebte Ukrainerin, die sein Krimprojekt verwaltet, sich in einen der jungen Pferdepfleger dort verliebte und jetzt ein Kind von ihm erwartet.
Während der Nowosibirsker Gouverneur betont, »das wichtigste, was wir den deutschen Investoren bieten können, ist Ruhe und Sicherheit für Heute und Morgen«, zog es einige der deutschen Nachwende-Abenteurer gerade zu einem Zeitpunkt auf die Krim, als diese ein einziges »Banditennest« zu werden drohte. Dann aber schafften es die russischen und ukrainischen Milizen mit wiedervereinten Kräften, die meisten kriminellen Banden nostalgisch zu liquidieren. Eine hatte zum Beispiel fast die gesamte Sewastopoler Transportflotte an die Türkei verkauft. Die Schiffe ankern noch immer bei Istanbul – und hunderte von Sewastopoler Offizieren verstehen die Welt nicht mehr, sie treffen sich aber immer noch täglich im Seemannsclub; »Die Hoffnung stirbt zuletzt«, wie Paustowski einmal in seinem Odessaer Schwarzmeer-Bulletin Der Rote Matrose schrieb. Viele höhere Ränge der Landstreitkräfte auf der Krim bekamen nach ihrem Großeinsatz Abfindungen, unter anderem einstige Banden-Immobilien. Die zugezogenen deutschen Abenteurer brachten einige darauf, diese zu Gästehäusern auszubauen.
Vor einigen Jahren kamen viele Krimtataren aus der Verbannung zurück, um sich ihr einstiges Eigentum zu sichern. Das macht sie bei den an ihrer Stelle auf der Krim angesiedelten Ukrainern unbeliebt – was sich gelegentlich bis zur Islamfeindseligkeit steigert. Hier versuchte zuerst der Norweger Thor Heyerdahl gegenzusteuern, indem er mit einer von seiner jungen Frau gesteuerten Yacht mehrmals die Krimhafenstädte besuchte und offiziell dafür warb, nur ja nicht die frühe Besiedlung der Halbinsel durch die Wikinger zu vergessen. Nach ihm traten Westberliner Joseph-Beuys-Forscher auf den Plan, indem sie immer wieder vor Ort – das heißt in den drei Krimdörfern, die behaupten, daß bei ihnen 1943 der Künstler als WK-Zwo-Kampfflieger notgelandet sei und sie den Schwerverletzten heimlich gesundgepflegt hätten – erläutern, daß dieser Beuys damals allein mit den von Krimtataren alterprobten Mitteln Filz, Fett und Honig geheilt worden sei. Weswegen der Künstler auch später noch am liebsten mit diesen Materialien arbeitete. Schon planen Projektemacher überall auf der Krim Beuyssche Künstlerkolonien – nachdem auch noch die Sparkasse Wilhelmshaven als Abwicklungsstelle der Künstlersozialkasse mit der Artbrut-Bank in Sewastopol ein Partnerschaftsabkommen geschlossen hat.
Aber Sibirien schläft nicht: Wie der Spiegel vermeldete, schickte der zur Zeit im Moskauer Gefängnis Matrosenruh einsitzende Chef von Jukos einfach einen »als Schamanen kostümierten Ex-Marinesoldaten zu Ausstellungen nach Westeuropa, damit er von der lebendigen Stammestradition der sibirischen Ewenken künde« – in deren Gebiet Jukos die meisten Ölquellen besitzt. Kurz danach trat im Berliner Haus der Kulturen der Welt eine schamanistische Tanzgruppe aus Kamtschatka auf. Daraufhin formierten sich in Friedrichshain und Friedenau die ersten esoterisch angehauchten »Gagarin-Brigaden« vor den Arbeitsämtern – und machten sich fit for wladiwostok. Mit dem Hölderlin-Lied Wir sind wir auf den Lippen ziehen sie schon bald gen ferner Osten: Wir haben unsere Lust daran, uns in die Nacht des/Unbekannten, in die kalte Fremde irgend einer andern/Welt zu stürzen, und, wäre es möglich, wir verließen/der Sonne Gebiet und stürmten über des Irrsterns/Grenzen hinaus. Ach! für des Menschen/wilde Brust ist keine Heimat möglich …
Der Kohlhistoriker Michael Stürmer führte dazu vor dem Unternehmerverband Gesamtmetall bereits aus: Als »Helden« taugten die Deutschen nicht, wohl aber komme ihnen bei der wirtschaftlich-wissenschaftlichen (Wieder-)Eroberung des Ostens eine führende Rolle zu. Der Slawist Schlögel titelte daraufhin für die FAZ: »Sibirien ist eine deutsche Seelenlandschaft«; und der jüngst verstorbene Lothar Bayer sprach in der Frankfurter Rundschau gar von einem »arktischen Arkadien«. Prompt verdoppelte die Deutsche Kriegsgräberfürsorge die Anzahl ihrer Exhuminierteams auf der Krim. Und Istanbul stellte, nachdem die Ukraine die Visaerteilung endlich erleichtert hatte, noch mehr Fährschiffe nach Jalta und Sewastopol in Dienst. Auch einige junge, in Kreuzberg lebende türkische Krimtataren und Lassen träumen bereits von einem eigenen Reiterhof in der alten Heimat, während der gelegentlich in Treptow lebende ewenkische Künstlerschamane Michail Guruev ein »nordasiatisches Kulturzentrum« an der Selenga nahe Burjatien schon fast fertig geplant hat. So werden nach und nach alle Altberliner in die vergangene Sowjetunion abgestoßen, während sich die Neuberliner vom zukünftigen Hauptstadtflair angezogen fühlen.
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