von Mario Keßler
Der sechzigste Jahrestag der Befreiung Europas vom Hitlerfaschismus lenkt den erinnernden Blick zurück auf jene, die diese Befreiung nicht mehr erleben durften, auf jene, die kurz vorher noch an der Verfolgung durch ihre Peiniger zugrundegingen. Zu ihnen gehört der Historiker Johan Huizinga (1872–1945), einer der herausragenden Intellektuellen der Niederlande und Mitbegründer der modernen Kulturgeschichtsschreibung. Huizingas wichtigste Bücher, so seine Hauptwerke Herbst des Mittelalters, Homo ludens oder seine Erasmus-Biographie sicherten ihm einen bleibenden Platz in der Geschichtsschreibung.
Die mennonitische Familientradition hatte den Vater von Johan Huizinga zum Theologen bestimmt, doch wurde er Mediziner und lehrte an der Universität Groningen. Sein Sohn zeigte in der Schule, neben den Talenten für Musik und Zeichnen, eine ungewöhnliche philologische Begabung: Außer den wichtigsten westeuropäischen Sprachen lernte er Sanskrit, Hebräisch und sogar recht gut Arabisch. Die Promotion erfolgte 1897 noch im Fach der vergleichenden Sprachwissenschaft, doch die Muse Klio zog ihn bald in ihren Bann. Dies gilt im Wortsinn, denn Huizingas Werke zeichnen sich durch ihren meisterhaften Stil aus.
Zunächst ging Huizinga als Gymnasiallehrer in den Schuldienst. 1903 erfolgte in Amsterdam die Habilitation mit einem Thema zur Kulturgeschichte des alten Indiens. Sein Lehrer Petrus Johannes Blok setzte 1905, zunächst gegen den Widerstand der Fakultätsmehrheit, Huizingas Berufung auf einen Lehrstuhl für allgemeine und niederländische Geschichte durch. Den Ausschlag gab die Publikation des ersten Teils der Geschichte Haarlems, Huizingas Debüt als Historiker. 1915 wurde er auf den Lehrstuhl für allgemeine Geschichte nach Leiden berufen. Zu diesem Zeitpunkt war sein Ruf als Historiker national und international bereits unumstritten.
Hatte Huizinga in Groningen vor allem zur niederländischen Geschichte publiziert, so weitete er in Leiden sein Arbeitsgebiet auf das Europa der frühen Neuzeit aus. Nun entstanden die großen kulturgeschichtlichen Werke, zunächst 1919 Herbst des Mittelalters. Diese vor allem auf Burgund konzentrierte Studie verglichen Kritiker mit Jacob Burckhardts Werk über die Kultur der Renaissance in Italien. Stärker als Burckhardt konzentrierte sich Huizinga auf mentalitätsgeschichtliche Fragestellungen. Huizinga zeichnete eine bis ins letzte überfeinerte Kultur, deren Vertreter eine Welt des schönen Scheins für die Wirklichkeit nahmen und an dieser schließlich scheiterten. Obgleich er aktuelle Parallelen sorgsam vermied, verfehlte das Buch in der Zeit einer 1914–1918 zusammengebrochenen Welt seine Wirkung nicht. 1924 erschien die Biographie des Erasmus von Rotterdam. Huizinga porträtierte den großen Humanisten als einen Denker, »der sich weigerte, Welt und Mensch unvollkommener hinzunehmen, als sie sein könnten und sein sollten«. Die Verpflichtung zum Besseren habe Erasmus »mit einer Entschiedenheit aufgestellt, welche kein späteres Zeitalter überbieten konnte«. Hatte Huizinga 1925 in einer Arbeit den Einfluß Deutschlands auf die niederländische Kultur untersucht, so trug er wenig später in Deutschland Fragen zur Holländischen Kultur des 17. Jahrhunderts vor. Als die entsprechende Publikation 1933 erschien, war die Kultur Deutschlands bereits unter dem Stiefel des Nazismus erdrückt.
Stets verstand sich Huizinga als Mittler zwischen den Kulturen. Aus diesem Anliegen heraus entstanden Bücher wie Engländer und Niederländer in Shakespeares Zeit (1924) oder die aktuellen Fragen gewidmete Studie Leben und Denken in Amerika (1927). Eine Aufsatzsammlung über Studien zur Theorie und Methode der Geschichte zeigte Huizinga 1934 als differenzierten Theoretiker und Geschichtsphilosophen. 1938 erschien Homo Ludens. Vom Ursprung der Kultur im Spiel, das Werk, das die Kulturgeschichtsschreibung endgültig zum wissenschaftlich gleichwertigen Pendant der politischen und Sozialgeschichte erhob.
Diese Buch war die letzte größere Arbeit Huizingas. Eine Autobiographie konnte er im Zweiten Weltkrieg nicht mehr vollenden. Die deutschen Besatzer hatte ihm nicht vergessen, daß er nach der sogenannten Machtergreifung der Nazis einen deutschen Gastwissenschaftler, der den Naziterror verherrlichte, von der Universität Leiden entfernen hatte lassen. Auch Huizingas Förderung linksorientierter Gelehrter – darunter seines bedeutendsten Schülers Jan Romein – war für die Nazis keine Empfehlung. 1942 wurde der entschiedene Antifaschist verhaftet.
Obwohl nach einigen Monaten freigelassen und unter Hausarrest gestellt, war seine Gesundheit durch die Gefangenschaft dauerhaft zerrüttet. Dem Kampf um Nahrungsmittel und ums bloße Überleben war er nicht mehr gewachsen. Am 1. Februar 1945 verhungerte der Gelehrte buchstäblich – kurz vor der Befreiung seines Heimatlandes, das in ihm, gleich Erasmus, einen Humanisten von europäischer Bedeutung besaß.
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