von Walter Thomas Heyn
Diese Frage stellt sich ja fast jedem immer wieder fast jeden Tag, und wenn er das Pech hat, Ossi, Geistesmensch, über vierzig Jahr alt, Künstler gar oder – Gott bewahre – einiges davon gleichzeitig zu sein, dann hat dieser Mensch keine Fragen, nein, er hat ein handfestes Problem. Das Unwort des Jahres heißt denn auch folgerichtig »Humankapital«. Um humanes Handeln geht es kaum in der Dreigroschenoper von Bertolt Brecht und Kurt Weill, viel mehr fast ausschließlich um das Kapital, um seine Erbeutung und seine Verteilung, um das Abrechnungswesen und immer wieder um Prozente und Lizenzen, buchstäblich herausgeschlagen aus den Ärmsten der Armen. Das »alte« Stück wird wieder brennend aktuell: Die Dreigroschenoper hatte im Landestheater Neustrelitz Premiere.
Regisseur Wolfgang Ansel (Hamburg) ging an das Werk heran, ohne Aussagen politischer Aktualität zu verweigern und ohne übertriebene Ehrfurcht vor dem übermächtigen Brecht aufkommen zu lassen. Er erarbeitete eine schlüssige und zeitgemäße Inszenierung, die das Ensemble in eine text- und ablaufgenaue, vielschichtige Lesart umsetzte. Plastisch herausgearbeitet sind die verschiedenen Interessenkonstellationen mit all ihren Wendungen, Brüchen und opernhaften Zufällen. Ganz im Sinne des großen BB haben die Darsteller alle immer mal wieder etwas zu lernen, wobei der Lernvorgang meistens durch eine Tracht Prügel oder durch Erpressung im großen Stil befördert wird.
Über jedem »Da könn’se was lernen«, das von der Bühne herab gesprochen wird, liegt das messerscharfe, zweischneidige »its good for you«, mit dem englischsprechende Underdogs den jeweils anderen verbal noch tiefer ins Unglück drücken. Das alles ist ganz in der Tradition des englischen Theaters mit seiner Lust an makabren Geschehnissen, an der Not und der Pein, die der »Kreatur Mensch« in bitterschwarzen und zugleich unterhaltenden Bildern zugefügt wird.
Glanzstücke des Abends sind Peachums (Michael Meister) diverse »Festvorbereitungen« anläßlich der Krönung der jungen Königin, die er dazu nutzen möchte, den ungeliebten »Schwiegersohn« Macheath, genannt »Mackie Messer« loszuwerden. Dieser ist kein übler Kerl, er weiß genau, daß man nur im Wohlstand angenehm leben kann, und er schneidet sich halt seinen Teil vom Kuchen ab. Der letzte »Gentleman von janz London«, der überraschend sensible Mackie Messer (Kai Roloff) liefert sich nicht nur brillante Duelle mit dem Polizeichef Brown (Arno Sudermann). Ihm gelingt es vor allem, den 3. Akt in überzeugender Form zu »seinem« Akt zu machen. Hervorragend besetzt sind auch die Frauenrollen, allen voran die Polly von Kristina Günther-Vieweg, die eine überzeugende Wandlung vom naiven Mädchen zur knallharten, aber nicht gefühllosen Geschäftsfrau vorführt und die Spelunken-Jenny von Franka Anne Kahl, die in ihrer Rollengestaltung auch den musikalischen Kontrast zwischen Oper und Gosse brillant herausstellt.
Überhaupt gelang es dem Darsteller-Ensemble durchgehend, die verzehrende Melancholie der Weillschen Melodien zu erspüren, von denen Helmut Kotschenreuther 1962 schrieb, daß »die Melancholie, die Weill seinen Figuren mitgibt, die moralische Rehabilitation dieser Figuren einleitet: wer so zu empfinden vermag, kann nicht bloß Nutznießer der Verhältnisse sein, die, nach Peachum, nicht so sind, wie sie sein sollten, er ist Nutznießer und Opfer zugleich«.
Da man die im Dunkeln nicht sieht, wie es der uneitle, aber sehr präsente und wunderbar melancholische Moritatensänger (Klaus Dieter Ulrich) verkündet, sei an dieser Stelle auf die besonderen Qualitäten des Orchesters hingewiesen: Die schmissig-militante Moralität des ersten und die schrillen Provokationen des zweiten Dreigroschenfinales waren ebenso hinreißend wie das große Chorfinale in rasantem Tempo mit seinem utopischen Grad an Unwirklichkeit. Denn: Der dialektische Widerspruch zwischen Taten (Texten) und Tönen kann vom Zuschauer nur aufgelöst werden, wenn die Töne ganz ernsthaft ausmusiziert werden. Die Liebesduette in dieser Inszenierung funktionieren, weil sie klingen, als handle es sich um die Überreichung der silbernen Rose. Und auch die Jazzelemente der Partitur ergeben nur einen Sinn, wenn der Preußenmarsch hindurchklingt. Dies ist hier der Fall, und deshalb ein großes Kompliment an den Kapellmeister Roland Vieweg, der selbst Klavier und Harmonium spielte, und an seine elf Mitstreiter im Orchestergraben.
Kurt Weill und seine Musik sind ein seltsames Phänomen. Sein Name ist jedem geläufig, seine Musik, offenbar unempfindlich und robust, scheint wie geschaffen für die Niederungen des Theateralltags. Doch dabei ist viel Kunst im Spiel: Verfremdung schafft Weill durch Distanz zum Text, zu den Vorgängen überhaupt, durch das Prinzip des Kontrastes (süße Musik zu bitteren Texten) sowie durch die Koppelung scheinbar disparater musikalischer Elemente, wie zum Beispiel durch das Gegenüberstellen von Textinhalt und Musikinhalt. Der Gestus, der einen konkreten theatralischen Vorgang in Musik umzusetzen hat, läßt sich als eine Art vergesellschafteter Affekt begreifen. Die Partitur der Dreigroschenoper wird das Nachschlagewerk dieser Technik bleiben. Und der Text von 1928 liest sich sowieso wie eine Glosse auf die Gegenwart.
Am 3. und 24. März sowie am 3. April um 19:30 Uhr im Großen Haus des Landestheaters. Zu empfehlen ist das Öko-Hotel (10 Minuten Fußweg).
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