von Wolfgang Geier
Politik hat nichts mit Moral zu tun. Alle, die dies bisher bezweifelten oder nicht wahrhaben wollten, sind nun endgültig eines schlechteren belehrt worden. Der Regierungschef des »Exportweltmeisters« (O-Ton desselben) traf den Regierungschef des »Hinrichtungsweltmeisters« (nicht O-Ton desselben) – einmal abgesehen von George W., aber der ist nur für den Rekord eines Bundesstaates der USA verantwortlich. Was sind schon einige tausend exekutierte Chinesen im Jahr gegen Aufträge für deutsche Konzerne in Höhe von einigen Milliarden.
Ein Leitartikler der Leipziger Volkszeitung entblödete sich nicht zu erklären, obengenanntes Treffen habe gezeigt, daß Politik und Moral durchaus Hand in Hand gehen können. Wenn es sich um Verbindungen dieser Art Politik mit dieser Art Moral handelt, dann hat das vorweihnachtliche Treffen von Gerhard Schröder und Wladimir Putin dies durchaus wieder bestätigt.
Die Klimaschutzexperten haben sich auch wieder einmal getroffen. Die deutsche Bundesregierung ist ein weltweiter Vorkämpfer zur Rettung der natürlichen Restbestände, die zuständigen Politiker benutzen das Kyoto-Protokoll wie eine tibetanische Gebetsmühle. Nachdem nun die Russen und die Chinesen auch dafür sein sollen, scheint die Zukunft des »blauen Planeten« wieder gesichert. Kein Wort fällt aus dem Munde der deutschen Klimaschutzhüter über das Verhalten der USA, das man als global amoralisch bezeichnen muß. Alle zusammen können nicht soviel Verschmutzungen der Atmosphäre verhindern, wie die USA verursachen. Aber nachdem man George W. und den seinen in Sachen Irakaggression nicht in den Hintern gekrochen ist, kann man sie nun nicht schon wieder wegen ihres Globalangriffs auf das Überleben der Weltbevölkerung verärgern. Worin bestand das Ergebnis des Treffens? In der Absichtserklärung, sich mangels Ergebnissen nächstes Jahr wieder zu treffen. Im übrigen: Après nous le déluge.
In »diesem unserem Land« – was für eine ideologisch-rhetorische Fehlleistung! – sind am Beginn des Jahres offiziell weit über vier, tatsächlich zwischen sechs und acht Millionen Menschen arbeitslos; über fünfzehn Prozent der Bundesbürger leben »unter« der sogenannten Armutsgrenze, wie viele leben eigentlich »an« ihr oder knapp darüber? Millionen Kinder verarmen und verwahrlosen, von der steigenden Zahl der Obdachlosen spricht kaum noch jemand. Demnächst sind die relative und absolute Verelendung endgültig Grundsätze und -ziele der Staatspolitik. Die Verantwortlichen deuten diese komplexe soziale Katastrophe jedoch als »Chance für Innovationen, für die Zukunft« und sind der sich ständig verschlechternden Wirklichkeit stets um soundso viele Lügen (Programme, Parteitage und so weiter) voraus. Sie leiden offenbar an irreversiblen und irreparablen Wirklichkeitsverlusten und Wahrnehmungsstörungen, kompensiert durch kaum noch beschreibbare politische Amoralität und sozialen Zynismus.
Im übrigen könnten die sogenannten Wirtschaftsweisen einmal die Ursachen und Verläufe, Trends und Prognosen der sozialen und geistigen Verarmung großer Teile der deutschen Bevölkerung anhand von Korrelationskoeffizienten, gebildet aus explodierenden Konzernprofiten und Privatvermögen einerseits und Armutsgrenzwerten, Arbeits- und Obdachlosenzahlen und so weiter andererseits berechnen; die ohnehin sinnlosen Veranstaltungen, in denen sich die »Weisen« und die Regierung in Wachstumsprognosen über- oder unterbieten, könnten dann endgültig entfallen, ebenso wie die bei solchen Gelegenheiten zelebrierten pseudomoralischen Attitüden.
In einer Veröffentlichung im Jahre 1995 zur kulturellen Lage im Beitrittsgebiet hatte der Autor von möglichweise vier bis fünf Millionen Arbeitslosen in zehn Jahren gesprochen; er wurde dafür als – was sonst? – »Jammerossi«, »Katastrophenprediger« und so weiter bezeichnet. Außerdem hatte er geäußert, bei der Beschaffenheit der deutschen Schulsysteme bestehe die Gefahr, daß die Einheit von Bildung und Erziehung zerbrechen, die Erziehung verschwinden und die Bildung zu einem patchwork verkommen werde. Er hatte sich überdies erdreistet vorauszusagen, daß große Teile der (Schul-)Jugend in zehn Jahren von einem sozial und medial, strukturell und funktionell verursachten Analphabetismus geprägt sein würden. Das wurde damals von Kritikern mit dem Hinweis auf das nun endlich von den »Spuren einer menschenverachtenden Diktatur befreite ostdeutsche Schulsystem« als »geradezu amoralisch« zurückgewiesen. Es hätte der Ergebnisse der PISA-Studien nicht bedurft, um zu erkennen, in welchem Ausmaße die deutsche Bildungspolitik amoralisch ist.
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