von Jens Knorr
Großer Alexander,/A*** auseinander,/A*** wieder zu,/und raus bist Du!« Der Abzählreim war in (Ost-)Berliner Kindergärten der sechziger Jahre geläufig, sein Sinngehalt hoffentlich nicht. Es macht weniger Erstaunen, wieviel »verbotenes« Wissen über Sexualität Kindermund immer schon kundtut, sondern vielmehr, wie lange sich kollektive Erinnerung im Unbewußten hält und welche Wege sie sich sucht, von Generation zu Generation weitergegeben zu werden. Wer nun aber glaubt, es täte nichts zur Sache, was besungener Feldherr außerhalb der Dienstzeit tat, der irrt, weil sich im Falle Alexanders von Makedonien Pflicht und Neigung so einfach nicht voneinander scheiden lassen.
Mit Alexander dem Großen begann die Epoche des Hellenismus, in deren Verlauf griechisches Kulturgut andere Kulturen durchdrang und orientalische Kulturelemente in den europäischen, insbesondere den griechischen Kulturkreis einsickerten. Alexander selbst vereinigt einige Aspekte ostwestlicher Verknüpfung von Sitten, Bräuchen und Kulturen. Wenn es uns also um den ruhmreichsten Militärstrategen aller Zeiten zu tun ist, Gründer von achtzehn Alexandrias, Pharao in Ägypten und persischer König, dann bekommen wir es unweigerlich mit seiner erstaunlichen Libido zu tun, die er teils sublimierte, teils verdrängte, teils auslebte. Oder sollte uns – mit den Worten von Brechts Totenrichter – der Ruhm des gewaltigen Alexander, der ganz Asien eroberte bis zum Indus, der seinen Schuh unverkennbar dem Erdball eindrückte, nur wie ein Rauch sein, der anzeigt, daß ein Feuer gewütet hat?
Um noch einmal den Kindergartenreim zu strapazieren: Eine männliche Umarmung zwischen Alexander und Hephaistion, gespielt von Colin Farrell und Jared Leto, hie, ein Küßchen für den darob äußerst indignierten Tänzer dort und einmal auch das schmerzverzerrte Gesicht eines Jünglings, der, sich die gerade eben geweitete Rosette haltend, ein Symposion flieht, werden wohl kaum einen Seminaristen vom Computer-Bildschirm weg und ins Kino locken. Ein Kuß des erwachsenen Sohnes auf die Lippen der Mutter Olympias, die ihm dafür eine scheuert, nicht allzu nachdrücklich übrigens, ist da schon von anderem Kaliber.
Oliver Stone läßt keinen Zweifel daran, daß Olympia, gespielt von Angelina Jolie, den Mord an Philipp von Makedonien, Val Kilmer, in Auftrag gegeben hat, um der Karriere ihres Sohnes, den sie überleben wird, den entscheidenden Kick zu versetzen. Der Regisseur läßt ihre ödipale Beziehung breit ausspielen, und tatsächlich erinnert die Anordnung der antiken Möbel im Gemach der Mutter, die mit Alexander nunmehr brieflich verkehrt, entfernt an ein Wiener Boudoir der Jahrhundertwende.
Weil der Film Alexanders Leben und Lieben allein psychologisch zu erklären sucht, anstatt den Widersprüchen seines Charakters in seiner Welt nachzuspüren, erscheint die Figur seltsam blaß und eindimensional. Der Achill und Herakles in einer Person, der neue Dionysos, der politische Visionär und wahnwitzige Mörder bleiben bloße Behauptung. Überhaupt scheitert der Film immer wieder an Schauspielern, die sich ihre Figuren restlos einverleiben, so daß diese gar nicht mehr als unwiederholbare, uneinholbare, als mythische wahrgenommen werden können.
Es versteht sich von selbst, daß Oliver Stone sein filmisches Handwerk versteht wie nur wenige neben ihm. Jedes Detail der Kostüme, Requisiten, Bauten, Schlachtordnungen will er historisch belegt wissen. Schauspielern und Statisten ließ er militärisches Verhalten antrainieren, als müßten Alexanders Schlachten bei Gaugamela und am Hydaspes noch einmal geschlagen werden. Doch nicht nach historistischer Meiningerei oder reenactment stand dem Regisseur der Sinn, als er mit allen Mitteln der Kunst und des Budgets die Welt Alexanders nachzubauen und diesen selbst in die Gegenwart zu zwingen suchte.
Alexanders Krieg ist Oliver Stones Krieg, ein Krieg um Gegenwelt und Gegenbild. Mit seinen Phalanxen tritt Stone zur Verteidigung einer Weltordnung gegen alle Weltordnungskrieger an. »Meine Heimat ist Babylon«, sagt Alexander einmal, der in Stones Film geradewegs einer Zeit entstiefelt scheint, die Riesen brauchte und Riesen zeugte, Riesen an Denkkraft, Leidenschaft und Charakter, an Vielseitigkeit und Gelehrsamkeit: der europäischen Renaissance.
Dabei muß Alexander gegen eine Kunstfigur der Neunziger antreten und verlieren, in der – in der Sprache der Wertkritik – das Wert-Abspaltungssubjekt der entfesselten betriebswirtschaftlichen Globalisierung zu gültiger Darstellung gebracht wurde. Diese Kunstfigur ist ein Psychiater und Triebtäter, vor allem brillanter Analyst, Lektor, seines kannibalischen Tuns, der nicht seine Triebe rationalisiert, sondern dessen Ratio ihn zu immer neuen Taten treibt. Es sei die These gewagt, daß Oliver Stone nicht weniger als einen Paradigmenwechsel von Hannibal Lecter, dem kannibalischen Kantianer, zurück zu Alexander von Makedonien, dem blonden Herrenmenschen mit intakten Hoden, wagt. Der Versuch ist anrührend, weil hoffnungslos anachronistisch, doch eben auch uramerikanisch, als könne der amerikanische Traum gegen die Schrecken seiner Einlösung verteidigt, der Globalisierung sinnvoll in deren eigener Logik entgegengetreten, das sich selbst verwertende Wertsubjekt des warenproduzierenden Systems im finalen Stadium in ein mit sich selbst identisches, freies, hellenisches zurückverwandelt werden. Hergestellt in Hollywood.
»Am einsamsten sind wir, wenn wir von Mythen umgeben sind«, sagt Alexander ein andermal. Einen Mythos kann man nicht leben, man kann ihn aber erzählen. Den erzählt Ptolemaios, Alexanders Statthalter von Alexandria, lange nach dem Tod seines Kriegsherrn. Und er erzählt zunehmend zweifelnd und verzweifelnd, da auch ihm die Gestalt Alexanders um so mehr sich aufspaltet, desto mehr er sie zusammenzusetzen sucht. Zufall oder nicht: Den Erzähler des Films, Ptolemaios, spielt kein Geringerer als Anthony Hopkins. Oder ist es wieder nur Hannibal Lecter, der uns seine Geschichte Alexanders nahelegen will. Wen zählt er als nächsten aus?
»Alexander«, zur Zeit in den Kinos
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