von Gerhard Wagner
In der Kunst des 20. Jahrhunderts gehören die Bilder des vor 125 Jahren, am 18. Dezember 1879, im schweizerischen Münchenbuchsee bei Bern geborenen Paul Klee zu den auffallendsten. Nicht nur im Sinne einer endlosen Vielfalt an Themen und Motiven, an Materialien und Techniken. Sondern im Sinne einer extremen, zuweilen befremdenden Gleichnis- und Zeichenhaftigkeit jenseits des unmittelbar Anschaulichen. Schnell ist zu merken: In diesen Bildern geht etwas um, das dem geläufigen »Verstehen« abhold sein will.
Um so weniger aber bringt dieses Werk heute das teils kulinarische, teils kultische Gerede vieler Bewunderer seiner »zarten« Aquarelle und ihrer »poetischen« Titel zum Verstummen. Gern säuseln sie immer wieder von einem einsamen Zwiegespräch des Malers mit sich selbst, von seinem vermeintlichen Weg zu metaphysischen Orten der wirklichen Freiheit, dichten ihm gar Preisgabe der Schönheit an. Auf diese Weise heute an Klees Sujets de facto vorbeizugehen, ist jedoch irreführend, ja leichtsinnig. Denn diese Sujets bergen nicht nur Wahrheiten Klees, sondern solche der Kunst des 20. Jahrhunderts – die wiederum keine Wahrheiten der Kunst allein waren.
Das im Bau befindliche Paul-Klee-Zentrum in Bern wird ab Juni 2005 Gelegenheit bieten, sich ihnen, von Floskeln unbeeindruckt, neu zu stellen. Denn es wird die Fülle der avantgardistischen Prismen, Kreise, Rechtecke und Pfeile neu ausbreiten, die Lebendigkeit der Labyrinthe, Stadtkonturen, Masken und Engelfiguren spüren lassen, die in zahllosen Variationen sich wiederfinden. Es wird dazu anregen, diese zu den eigenwilligen, häufig klein geschriebenen, wie Bruchteile vollständiger Sätze wirkenden Titel der Bilder in Beziehung zu setzen und diese immer wieder neu zu kombinieren. Zum Beispiel: woher? wo? wohin? (Aquarell/Rötel/Kreide, 1940) – pathetisches Keimen (Kleisterfarbe, 1939) – glüht nach (Aquarell/Bleistift, 1939).
Klees Bilder sind im komplexen Sinne »Texte« aus Abbildungen, Situationsschilderungen, Erzählungen, Metaphern und Emblemen. Und jedes ist als ein neues Rätsel aufzufassen, als ein nicht selten düster-bizarres Orakel (Öl, 1922) mitten im Wirbelsturm des »Fortschritts«. Die Lösung solcher Bilderrätsel erfordert Einsicht in die Zusammenhänge zwischen dem bildnerischen Denken, der Gestaltungslehre und dem Produzieren bei dem liebevoll »Bauhausbuddha« genannten Verfasser eines Pädagogischen Skizzenbuchs (1925), in die zu Konstruktivismus und Kubismus, zu Wassily Kandinsky und dem Blauen Reiter führenden Suchbewegungen, die Entstehungsspuren, die (wie Klee sie nannte) »Facturen« von experimentierfreudigen Arbeiten wie Plastik nach einer Blumenvase (Öl/Bleistift, 1930). Aufschlußreich für Lebenssituationen und Kunstansprüche Klees sind auch die im Jahre 1933 entstandenen über zweihundert, teils ironischen, an Honoré Daumier anknüpfenden Bleistift- und Fettkreidezeichnungen mit Alltagsszenerien der »nationalsozialistischen Revolution«. Sie tragen Begriffe wie Menschenjagd und Gewalt, wie Dictator und Krieger in ihren Titeln. Erst 1984 wurden sie in der Schweiz identifiziert. Thematisch verwandt mit ihnen sind farbige Aquarelle und Gemälde aus demselben Jahr. Darunter Europa: eine verwaschen-blaue Fratze aus Strichen, Kreuzen und Rechtecken, versehen mit blutrotem Ausrufungszeichen.
All diese Arbeiten belegen, daß Paul Klee früh wußte, was nottat: jedes offene oder geheime Zeichen für die Grenzen, die dem Faschismus gesetzt sind – im Menschen wie auf dem Erdball. Aber Klees künstlerische Phantasie ist nicht, wie ein Aquarell von 1933 scheinbar nahelegt, nur als geschichtlicher Gegenpfeil zum »Nationalsozialismus« zu begreifen. Sondern auch als einer jener pfeile der avant-garde (Titel eines weiteren Aquarells), die verstörend in den Horizont der Gegenwart stoßen und dort »unendliche Funken« (P. Klee) schlagen. Denn diese Phantasie zeigt die Welt, um mit den Titeln zweier anderer Bilder zu sprechen, sowohl constructiv-impressiv (Öl, 1927) als auch transparent-perspectivisch (Aquarell, 1921) – in einer unendlichen Folge von Übergängen, in ewiger Vergänglichkeit, mit aufgelöstem Schein, entzifferten Ruinen, nicht mehr anrufbaren Göttern.
Und sie imaginiert eine Welt ohne Schmerz, Angst und Bedrohung, ohne Sucht nach verschwommenen Glücksversprechen; eine Welt, die von einem reichen menschlichen Geschehen durchflutet ist. Klee, der im Weltkriegsjahr 1940 in Muralto bei Locarno starb, hoffte auf die Nachgeborenen: »Diesseitig bin ich gar nicht faßbar.«
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