Des Blättchens 7. Jahrgang (VII), Berlin, 20. Dezember 2004, Heft 26

Märchenhafte Bestellung

von Kai Agthe

Die Märchen, die Franz Fühmann (1922-1984) im Jahre 1982 für kleine und große Leser auf Bestellung schrieb, waren für den Schriftsteller eine literarische Lockerungsübung. Es hätte ihn bestimmt gefreut, wenn er hätte erleben können, daß diese vier Märchen, von Kollegin Elke Heidenreich gelesen, auf einem Tonträger erscheinen. Zwei dieser Texte (Von der Fee, die Feuer speien konnte und Anna, genannt Humpelhexe) wurden vom Hinstorff-Verlag zuvor schon als Bilderbücher (mit Illustrationen von Jacki Gleich) veröffentlicht.
Eine Art Schlaraffenland gleich hinter Berlin ist der Sommerwald der Anna Susanna lach doch mal in Von der Fee, die Feuer speien konnte. Die Anregung, ja Bestellung, kam seinerzeit von Fühmanns Enkelin Marsha. In diesem Märchen fällt der ewige Sommer, der im Wald von Anna Susanna herrscht, dem garstigen Winterkönig zum Opfer. Kraft ihrer stets guten Laune hat die kleine Fee die kalte Jahreszeit bislang fernhalten können. Um nun die großen Mengen von Eis und Schnee zu vertreiben, versucht Anna Feuerspeien zu lernen. Aber so richtig will es dem viel zu zarten Wesen nicht gelingen. Erst sieben halb-, pardon: lautstarke und leicht angeberische Drachenkinder tauen den Anna-Wald mit heißem Hauch auf und lassen den Frühling Einzug halten. Die Tiere des Waldes und Anna-Susanna sehen nach diesem Abenteuer, das sie eiskalt erwischt hat, ein, daß nicht immer Sommer sein kann und lassen den vier Jahreszeiten auch in ihrem Refugium fortan ihren natürlichen Lauf.
Die Jahreszeiten in Windeseile an sich vorbeirasen zu sehen, ist der kleinen Hexe Anna im Märchen Anna, genannt Humpelhexe gegeben. In diesem Fall war es eine behinderte Frau, die den Autor bat, er möge eine Geschichte schreiben, und zwar über eine gewisse Anna Humpelbein. Gesagt, getan. Die Anna des Fühmannschen Märchens besitzt die Fähigkeit, mit einem Bein schnell wie das Jahr zu sein, mit dem anderen aber so langsam, daß selbst die Schnecken zu sprinten scheinen. (Benutzt sie beide Beine, dann humpelt sie gar schrecklich, was sie unter ihren Mitschülern zur Außenseiterin macht.)
Zur Kunst des Schnell- und Langsamlaufens gesellt sich bei Anna noch die im Märchen obligatorische dritte Fähigkeit: Geht sie auf den Händen, dann verkehrt sich alles auf der Welt in sein Gegenteil. Der Hase jagt plötzlich den Fuchs, und der Lehrer wird von den Schülern gerügt, weil er wieder einmal seine Hausaufgaben vergessen hat. Sich auf diese drei Arten bewegen zu können, wird für Anna am Ende der Welt, das sie aus reiner Neugier aufsucht, überlebenswichtig.
Denn dort trifft sie auf zwei Riesenbrüder, die im Begriff sind, sich gegenseitig die Köpfe einzuschlagen, dann aber ein Herz und eine Seele sind, als Anna erscheint. Durch ihren Witz und die schnelle, langsame und alles verkehrende Fortbewegung kann sich die kleine Hexe dem Zugriff der beiden gewaltigen und gewalttätigen Riesen glücklich entziehen.
Wer die anderen beiden Geschichten (Der Drachen und der Schmetterling und Doris Zauberbein) bestellt hat, ist dem Booklet der CD nicht zu entnehmen. Auf jeden Fall ist Doris Zauberbein sieben Jahre alt, wohnt im Märkischen und will zaubern lernen. Das kann, findet sie, nicht sehr schwer und auf jeden Fall nützlich sein, um etwa den trostlosen grauen Häusern, die entlang der Spree stehen, bunte Fassade zu verpassen – weil auch Doris, wie wir später erfahren, in einem Haus wohnt, wo der Putz bröckelt. Aber wer lehrt die Kunst des Zauberns? Der Storch kennt sich aus: Auf einem Bein stehen, das bewirkt den Zustrom von Zauberkräften. Als sie es endlich gelernt hat, kann sie mittels Drehung der Zehen tropische Hitze und polare Kälte entstehen lassen. Das hat die Welt hinter Berlin noch nicht gesehen beziehungsweise gefühlt. Das finden auch die Horcher und Gucker, die Doris’ bald nachstellen …

Elke Heidenreich liest Franz Fühmann. Märchen auf Bestellung. Hinstorff-Verlag, Rostock 2004. 1 CD, 12,90 Euro.