Des Blättchens 7. Jahrgang (VII), Berlin, 6. Dezember 2004, Heft 25

Kirow-Legenden

von Wladislaw Hedeler

Am späten Nachmittag des 1. Dezember 1934 verstarb im Smolny Sergej Kirow an den Folgen eines Attentats. Auch nach siebzig Jahren ranken sich um die Ermordung des Leningrader Parteichefs immer noch Legenden. Da es den Mitarbeitern der vom Politbüro des ZK der KPdSU seit 1961 eingesetzten Untersuchungskommissionen offensichtlich nicht gelungen ist, Antworten auf die meisten mit dem »Fall Kirow« zusammenhängenden Fragen zu geben, wird auch in Zukunft genügend Stoff für Spekulationen vorhanden sein.
Die heute vorliegenden, den Verlauf der Rehabilitierung der Opfer politischer Repressalien in der UdSSR dokumentierenden Bände (Reabilitazija: kak eto bylo. Moskau 2000, 502 Seiten; 2003, 958 Seiten und 2004, 717 Seiten), enthalten auch das den Mord an Kirow betreffende Material. Die Untersuchung endete am 23. März 1990 so, wie die ersten Voruntersuchungen am 31. Dezember 1955 begonnen hatten: im Streit zwischen dem Kommissionsvorsitzenden und dem Chef des KGB.
Betrachtet man die langwierige Untersuchung vom Ende her, wird deutlich, wie parteilich und voreingenommen die von Nikolai Schwernik (1962 – 1966), M. Solomenzew (1988) und Alexander Jakowlew (1988 – 1990) geleiteten Kommissionen gearbeitet haben. Eine Stalinismus-Debatte wurde selbst dann vermieden, als sie im Zusammenhang mit der Ausarbeitung von Parteibeschlüssen und Gesetzesvorlagen dringend erforderlich gewesen wäre. Als Alexander Jakowlew, Leiter der dritten Rehabilitierungskommission, seine Unterschrift unter den Abschlußbericht vom März 1990 verweigerte, begründete er es mit dem Hinweis auf die widersprüchliche und verworrene Darstellung der tatsächlichen Rolle des NKWD. Er hatte unmittelbar vor dem 28. Parteitag der KPdSU im Juli 1990 unterstrichen, daß die Repressalien und der Terror weder als ein Zufall noch als das Ergebnis der Handlungen eines einzelnen psychisch kranken Führers interpretiert werden können.
Immerhin sah sich der KGB veranlaßt, darauf zu reagieren und präsentierte im Juni 1990 den (vorerst) letzten Bericht über die hierzu im Zentralarchiv des NKWD befindlichen Dokumente. Es ging um die Akten von fast dreitausend Personen, die auf unterschiedlichste Weise mit dem Fall Kirow und seinen Folgen in Verbindung gebracht werden konnten. Mit ihrer Feststellung, daß weder Stalin noch das NKWD den Mord in Auftrag gegeben hatten, stellten die NKWD-Verfasser des Berichtes das Leitmotiv der von der Schwernik-Kommission vorgelegten Untersuchung in Frage: Bei Kirows Mörder Leonid Nikolajew – so ihre These – habe es sich um einen Einzeltäter gehandelt.
Die Schwernik-Kommission, der auch Vertraute Stalins angehörten, beschäftigte sich vor allem mit dem Terror des NKWD gegen die Eliten. Ein idealeres Opfer als Kirow war für sie kaum vorstellbar, denn die Untersuchung der Ermordung des Parteifunktionärs konnte unter Ausklammerung der »führenden Rolle« der Kommunistischen Partei (und damit auch der persönlichen Verstrickung der Kommissionsmitglieder) bei der Organisation des Terrors erfolgen. Es ging »nur« um Einzelschicksale, um die Besten der Besten, die »der Terror« – damals Synonym für Stalin – hinweggerafft hatte. Am 18. Februar 1963 legte die Kommission einen Zwischenbericht vor, der Stalin belastete. Doch nach Chruschtschows Sturz im Oktober 1964 begann eine schleichende Rehabilitierung Stalins, im April 1966 stellte die Parteikontrollkommission die Kirow betreffenden Recherchen ein.
Ein Jahr nach dem Tod von O. Schatunowskaja, die schon als Mitglied der ersten Rehabilitierungskommission sehr viel Material und Erinnerungsberichte über Kirow zusammengetragen hatte, wurden alle von ihr formulierten Hypothesen als erfunden oder haltlos abgelehnt. Folgt man dem Bericht des KGB, hat während des 17. Parteitages der KPdSU(B) im Januar 1934 das Treffen in Ordshonikidses Wohnung, auf dem Kirow der Vorschlag unterbreitet worden war, Stalin als Generalsekretär abzulösen, nie stattgefunden.
Bei der Wahl des ZK auf dem 17. Parteitag hatte Stalin – so die offizielle Version – drei Gegenstimmen erhalten. Andere Hypothesen lassen sich bis jetzt aufgrund der Quellenlage weder beweisen noch widerlegen. Gegen Stalin sollen, je nachdem, auf welche Quelle man sich stützt, zwischen hundert und dreihundert der 1227 Delegierten mit beschließender Stimme votiert haben. Gorbatschow sprach noch von dreihundert Gegenstimmen. Im Archiv sind nur 1059 Stimmzettel erhalten. Da es kein Protokoll gibt, wie viele Stimmzettel ausgegeben wurden, kann man nur darüber spekulieren, warum 166 Stimmzettel fehlen.
Tatsache ist, daß 108 von 139 der auf diesem »Parteitag der Sieger« gewählten ZK-Mitglieder und Kandidaten sowie 39 von 41 Mitgliedern der Wahlkommission auf Stalins Befehl umgebracht worden sind.
Kirow, der Stalins Vertrauen genoß, hatte 1926 Grigorij Sinowjew als Parteisekretär von Leningrad abgelöst. Er fiel auf, als er die Rolle des in Ungnade gefallenen Nikolai Bucharin übernahm. Von nun an war der »von allen geliebte Kirow«, der »Liebling der Partei«, ein begabter Publizist und Tribun – dann war er tot, erschossen. Stalin besaß ein Gespür für günstige Momente und reiste sofort nach Leningrad. Bereits am 4. Dezember 1934 veröffentlichte die Prawda das Gesetz über die sofortige Vollstreckung der von den Sondertribunalen verhängten Todesstrafe. Es war zuvor nicht im Führungszirkel diskutiert worden.
Es folgte eine Parteireinigung. In der ersten Verhaftungswelle, die bis zum 16. Januar 1935 andauerte, wurden 77 Personen verhaftet. Am 16. Dezember waren es schon 843 Oppositionelle aus Moskau und Leningrad, die Sinowjew nahestanden. 988 waren auf dem Weg in die Verbannung. Am 28. Dezember begann das Gerichtsverfahren gegen die in der »Leningrader Strafsache« Angeklagten. L. Nikolajew wurde am 29. Dezember hingerichtet.
Sein Schicksal teilte Kirows Leibwächter M. Borisow. Während der Fahrt zur Vernehmung durch Stalin soll er von seinen Kameraden erschlagen worden sein. Diese Version war bis zum zitierten Abschlußbericht nicht in Frage gestellt worden. Jetzt ist auch sie vom Tisch, und es ist wieder von einem Autounfall die Rede. Und niemand erklärt, warum der Leibwächter seinen Chef im Smolny aus den Augen verlor.
Auch die in Chruschtschows Geheimrede enthaltene Behauptung, Nikolajew sei zweimal vor Kirows Wohnhaus vom NKWD verhaftet, nach Feststellung der Personalien aber sofort wieder freigelassen worden, wurde als erfunden zurückgewiesen, im Archiv ist nur eine Verhaftung dokumentiert. Es sei ein Zufall, daß die Munition für die Tatwaffe in einem Dynamo-Sportgeschäft gekauft wurde. Die Gesellschaft war ein Unternehmen des NKWD.
Anstelle der alten Legenden wird jetzt eine neue – auch vom russischen Fernsehen aufgegriffene – Version verbreitet: Kirow habe eine Liebesaffäre mit seiner Sekretärin gehabt, deren Exfreund war Kirows Mörder. Alles, was dieser begann, scheiterte. Im Berufsleben hatte er kein Glück, in fünfzehn Jahren wechselte er dreizehnmal die Arbeitsstelle. Das Studium am Institut für Geschichte der KPdSU(B) scheiterte am Parteiausschluß, und dazu noch die Beziehungskrise. Der Versager Nikolajew habe sich an einem Verantwortlichen rächen und durch seine Tat darauf aufmerksam machen wollen, wie die bürokratische Maschinerie Menschenleben zerstöre. Sein Plan, wenn es überhaupt einen solchen gab, sei nicht aufgegangen.