von Wolfram Adolphi
Es ist ein exzellent geschriebenes Buch, und es gefällt mir nur mäßig, und beides hat mir Gewinn verschafft. Die Rede ist von Jens Biskys Geboren am 13. August. Der Sozialismus und ich.
Die Erinnerungen und Ansichten eines Mannes vom Jahrgang 1966. Der zehn war, als Biermann aus der DDR verjagt wurde, zwanzig, als das Gorbatschow-Feuer brannte und die SED-Spitze den Löschmeistertrupp gab, und dreiundzwanzig, als Honecker tausenden anderen Dreiundzwanzigjährigen keine Träne nachweinte. Seine Eltern Almuth und Lothar Bisky, sagt er, »gehörten zur letzten Generation im Arbeiter- und Bauernstaat, die wirkliche Aufstiegsmöglichkeiten besaßen«. Das sind die Jahrgänge Anfang der Vierziger, und ich – vom Jahrgang 1951 – merke: Er hat recht. Wiewohl ich für mein eigenes Leben noch den Schwung der frühen Siebziger in Anspruch nehme und selbst die Achtziger als solchen Aufstieg beschreiben kann – dies freilich vor allem wegen langjähriger Auslandsaufenthalte.
Aber das will mir Jens Bisky auch gar nicht ausreden. Denn anders als die vielen missionarischen DDR-Erklärer, die in den vergangenen Jahren mit Pauschalurteilen nur so wucherten und dabei positive DDR-Erfahrung ins Reich der Unmöglichkeit verbannten, bleibt er ganz bei dem, was er selbst erlebt hat – dabei auch Irrtümer und Sichtbeschränkungen einräumend. Das konsequente Ich: Es gilt auch für die ganz umfassenden Urteile. Schon in der Einleitung ist von der DDR als dem »Land der vollendeten Rücksichtslosigkeit« die Rede, »das Menschen verschlang und funktionieren ließ, die Beziehungen zwischen ihnen vergiftete, die Gesellschaft zersetzte«. Aber Bisky schreibt nicht »Die DDR war …«, sondern: »Ich hatte inzwischen (er meint das Jahr 1996) genug über sie (die DDR) erfahren, um Honeckers Republik für das Land der vollendeten Rücksichtslosigkeit zu halten« (Hervorhebungen von mir – W. A.). Dies ist ein wichtiger Unterschied.
Bisky ist Profi. Seine Beobachtungen sind genau und oft von lakonischem Humor, und geschickt hält er die Balance zwischen Beobachtung und verallgemeinerndem Schluß. »Ich bin im Kommunismus groß geworden, der 1966 im Leipziger Osten zur Untermiete wohnte«, formuliert er zum Einstieg in seine Lebensbeschreibung, und er fährt fort mit einer Schilderung seiner jungen Eltern, in der Verehrung und ein Zug feingesponnenen Spotts eine aufstörende Mischung miteinander eingehen – eine Mischung, die schon da den Zugang eröffnet zu den Zerrissenheiten, von denen die folgenden Kapitel handeln.
Da freilich bleibt der Spott dann oft im Halse stecken. »Harmlos und niedlich kann ich heute«, schreibt Bisky, »die Pioniere nicht mehr finden« – eine Organisation, in der er »Jungpionierratsvorsitzender und Freundschaftsratsvorsitzender gewesen« ist –, denn: »In ihr ist Unschuld vernutzt worden«.
Später, in Berlin, ist Bisky Agitator in der FDJ-Leitung seiner Erweiterten Oberschule, »den Massen die Weisheit der Regierenden und meinen privaten Marxismus bringend«. Ich versuche, seine Erinnerungen mit den meinigen in ähnlicher Funktion zu vergleichen, und bin beeindruckt davon, wie klar der 15 Jahre Jüngere das Erstarrte, das Zukunftslose zum Ausdruck bringt. Bei der Wahl in die Funktion noch ganz Hoffnung: »Damit war ich Dogmas (des Klassenlehrers) Herrschaft ein wenig entrückt« und »nicht nur Objekt gefasster Beschlüsse, sondern handelte, wenn auch unter Kontrolle, in ›eigener Verantwortung‹.« Aber: »Die Freie Deutsche Jugend (…) hatte die Technik, Einfaches kompliziert zu machen und Selbstverständliches unerträglich, längst perfektioniert.«.
Ein Schlüsselerlebnis 1984 der Besuch jener Kirche in Warschau, in der der von der polnischen Geheimpolizei ermordete Priester Popieluszko gepredigt hatte. »Einen Schock dieser Intensität habe ich nie wieder erlebt.« Und weiter: »Müde kam ich aus Polen zurück und hatte wenigstens kapiert, dass mein Problem nicht allein das Schwulsein war. Das hatte mich nur fremd werden lassen und mit Menschen bekannt gemacht, die in meinem natürlichen Umfeld nicht vorkamen. Das Problem war, dass nichts stimmte. Die revolutionäre Partei fürchtete jeden Windhauch, die Arbeiter leisteten keinen Widerstand, die Intellektuellen hatten Thesen, begriffen aber nichts.«
Auch im Rückblick sieht sich Bisky in dieser Zeit noch immer »en famille mit Staat und Partei«. Erst 1992 habe er seine »erwachsenen Jahre in der späten DDR als unwiederbringlich verlorene zu den Akten gelegt«, wollte er »mit der DDR und dem Sozialismus nicht mehr viel zu tun haben«, »verschwand« sein »revolutionärer Elan … in dem Geisterreich, aus dem er gekommen war.«
Daß mir das Buch bei allen Qualitäten nur mäßig gefällt, hängt mit dem Nicht-Geschriebenen zusammen. Ich weiß, das ist immer fragwürdig. Das Geschriebene steht zur Debatte an und nichts sonst. Aber schon bei in der DDR herausgebrachten Memoiren alter Kommunisten hat es mich gestört, wenn sie 1945 abbrachen und die Vorgänge und Auseinandersetzungen in der neuen Gesellschaftsordnung keine Rolle mehr spielten. Damals gab es für eine solche Selbstbeschränkung scharfe politische Gründe. Aber jetzt? Ist da wirklich nichts in diesem neuen Leben, dieser anderen Gesellschaft, über das sich auch vergleichend nachzudenken lohnt? Nichts, das es wert ist, als aufgehobene Erfahrung des früheren Lebens im Gespräch zu bleiben? »Auch er«, sagt Jens Bisky an einer Stelle über seinen Bruder Norbert, »hatte den Familienfehler, das Land und den Sozialismus für eine bedeutende Sache zu halten.« Das ist mir zu wenig. Und es steht mir auch in einem seltsamen Widerspruch zu dem an anderer Stelle formulierten Bekenntnis, es sei »das Interesse« geblieben, »zu verstehen, was gewesen ist«. Gewesen ist, was das konsequente Ich erlebt hat – und immer auch unendlich viel mehr. Das Jetzt abzuhaken mit Sätzen wie »Lieber wundere ich mich, wie viele im Land davon überzeugt sind, dass es eine Zensur gibt, wie viele nach wie vor an geheime Mächte, das Proletariat, die Herrschenden oder die Sterne glauben wollen«, spiegelt nicht nur einen seltsam laxen Blick auf die Gegenwart – es verengt auch den Blick in die Vergangenheit.
Jens Bisky: Geboren am 13. August. Der Sozialismus und ich, Rowohlt Verlag Berlin 2004, 252 Seiten, 17,90 Euro.
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