von Jens Knorr
Das Gedicht Rückkehr, 1943 geschrieben von einem deutschen Emigranten im fernen Kalifornien, schließt voller Bängnis: »Die Vaterstadt, wie empfängt sie mich wohl?/Vor mir kommen die Bomber. Tödliche Schwärme/Melden Euch meine Rückkehr. Feuersbrünste/Gehen dem Sohn voraus.« Drei Jahre später geht ein anderer Amerikaner, der einmal Deutscher war, den Feuersbrünsten nach.
Er besucht zwischen November 1946 und April 1947 das besetzte Deutschland sowie das nicht minder besetzte Österreich – in die jeweilige SBZ zu fahren, wird ihm allerdings verwehrt –, er sieht Städte, die noch Städte sind, und Städte, die vor kurzem noch Städte gewesen waren. Er riecht den Gestank von Städten, deren noch bewohnbare Zimmer mit kleinen Kanonenöfen beheizt werden, »wie ein finsterer Slum in einem Kohlenbergbaugebiet«, von geplatzten Abflußrohren, den Knoblauchgeruch von Karbidlampen, den kalten, beißenden Rauch von grünem und feuchtem Holz. Er hört die »Grabesstille, über dem Schutt der Städte, in den verlassenen Wohnvierteln« nach Einbrechen der Dunkelheit, aber auch »ein ewiges Kommen und Gehen, Wandern, Laufen, Durchqueren; ein Scharren und Knarren von Millionen von rastlosen Sohlen. Dies ist der ›Schwarze Markt‹; die ›grüne Grenze‹; die Welt und der Marsch der Heimatlosen, der Vertriebenen, der auseinandergerissenen Massen, der heimlichen Reisenden, der marodierenden Jugend.«
Der Reisende trifft geistig und körperlich verwahrloste Jugendliche, die in Tränen ausbrechen, wenn er sie nach ihren Müttern fragt, hilflose Eltern und Lehrer, die ihre Selbstachtung längst verloren, Ami-Liebchen in den Lokalen, einen Vater zwischen den Ruinen, wahnsinnig geworden über den Tod seines Sohnes, eines Hitlerjungen, in den gefluteten U-Bahnschächten. Er trifft Jungen, die nichts sehnlicher wünschen, als aus diesem verfluchten Land herauszukommen, und Jungen, die nichts sehnlicher wünschen als ein Deutschland, in dem es sich zu bleiben lohnt. Er, der Theaterautor, trifft auf intellektuelle Neugier und Wissensdrang einfacher Deutscher, »Fußvolk«, die sich einen Theaterbesuch vom Munde absparen, die ihn anbetteln – nicht um Nahrung oder Zigaretten, nein: um Bücher, »bitte, ganz gleich, wie, und ganz gleich, welcher Art«.
Und er, der Amerikaner, der Deutsche, spricht zu ihnen. Er hätte sich als Richter aufspielen können wie andere Emigranten in alliierten Uniformen, doch er kommt als Helfer. Der Heimkehrer kommt »nicht als ein Repräsentant der Sieger-Macht«, sondern als »Verbindungsmann zwischen den deutschen und amerikanischen Leuten (…), nicht als der Amerikaner, der den Deutschen Orders gibt.« Die summary reports, die Carl Zuckmayer im April und Mai 1947 als ziviler Beauftragter für das Kriegsministerium der USA verfaßt, sind keine functional reports, keine »blöden« statistics, sie berichten von wichtigeren Dingen. Spricht Zuckmayer bei seinen öffentlichen Auftritten zu den Besiegten von den Empfindungen der Amerikaner, so sprechen seine Berichte an die Besatzer von den Empfindungen der Deutschen. Sie sollen die Isolierung Deutschlands durchbrechen, Verständnis für Deutschland hervorrufen, auf eine radikale Änderung der Besatzungspolitik und der Entnazifizierung hinwirken, deren Fiasko sich bereits abzeichnet. Die Deutschen, vor allem die deutsche Jugend, sollen nicht länger büßen, nicht länger Schulden abzahlen, sondern Verantwortung übernehmen.
Daß die Wende in der amerikanischen Nachkriegspolitik bereits beschlossen war, konnte Zuckmayer zum Zeitpunkt der Niederschrift nicht wissen. Daß diese Wende weniger aus der Einsicht resultierte, eine verfehlte Deutschlandpolitik würde am Ende mehr Nationalsozialisten produzieren, als im Tausendjährigen Reich je gezählt, sondern vielmehr aus einer Neuausrichtung der amerikanischen Politik gegenüber der UdSSR – das hat Zuckmayer vielleicht geahnt. So kam er dort zu Stuhle, wo Intellektuelle gemeinhin zu sitzen kommen: zwischen allen Stühlen. Der amerikanischen Regierung kommunistischer Umtriebe verdächtig, galt er der kommunistischen »Emigranzia« als hoffnungslos reaktionär. Immerhin erging es seinen Vorschlägen und Warnungen wie den ihren: Sie landeten ungelesen im Papierkorb, günstigstenfalls in den Archiven. In Zuckmayers Nachlaß, den das Deutsche Literaturarchiv Marbach verwahrt, sind Gunther Nickel, Johanna Schön und Hans Wagener fündig geworden und haben die beiden Deutschlandberichte zusammen mit weiteren Texten Zuckmayers zur Deutschlandpolitik, die er zwischen 1946 und 1949 verfaßte, innerhalb der »Zuckmayer-Schriften« des Göttinger Wallstein Verlags neu ediert.
Wie in Stenogrammen erscheint das gesamte Panorama – oder vielmehr Panoptikum? – der deutschen Nachkriegsgesellschaft versammelt: partyfeiernde Amerikaner, Männer und Frauen des wirklichen Widerstands und nachholende Widerständler, Möchtegern-Verfolgte und SS-Hünen auf der Flucht, unbehelligt vom amerikanischen CIC, studierende Wehrmachtsoffiziere, die der Reinheit der deutschen Seele nachsinnen, ewige Spießer und korrupte Bürokraten, die unter dem einen wie dem anderen System wie geschmiert laufen, SPD-Vereine, die ihre Meierei da wieder aufnehmen, wo sie 1933 unterbrochen wurde, Displaced Persons und überhaupt Juden, die wieder handeln, und Händler, die schon wieder »die Juden« heißen. Zuckmayers Beobachtungen, heute gelesen, lassen uns das große Schweigen einer Generation erst ganz verstehen, das ihre Kinder, »die Achtundsechziger«, vorschnell und lauthals als Schweigen über deutsche Verbrechen mißdeuteten – und überhörten, daß dieses Schweigen auch die Brände, das Elend und die Demütigungen der Besatzungszeit einschloß.
Die Aktualität von Zuckmayers Warnungen liegt auf der Hand: »Was wir den Deutschen heute antun, werden wir uns selbst antun. Kultureller Wiederaufbau in Deutschland und Reorientierung ist keine Angelegenheit von ›Wohltätigkeit‹, sondern von Vernunft und Selbsterhaltung. Hier beginnt das, was man den Komplex einer ›zivilisierten Welt‹ nennen könnte, hier ist die Schlüsselstellung für Untergang oder Überleben, hier liegt die Entscheidung, ob sie gerettet oder zerstört wird. Der Anblick dieser zerstörten Städte und abgehärmten Gesichter spricht eine ernste Sprache. Sie fragen: Wer ist der nächste? – Die Ausbreitung von moralischen Slums mitten in Europa wäre für die Fortdauer der Zivilisation der Welt genauso gefährlich wie ein weiterer wirtschaftlicher und sozialer Verfall.«
Die Bushs, Blairs, Putins und selbst die Schröders dieser Welt sind intellektuell rettungslos überfordert, solche Binsenwahrheit auch nur zur Kenntnis zu nehmen.
Carl Zuckmayer: Deutschlandbericht für das Kriegsministerium der Vereinigten Staaten von Amerika (Zuckmayer-Schriften. Im Auftrag der Carl-Zuckmayer-Gesellschaft hrsg. von Gunther Nickel, Erwin Rotermund und Hans Wagener), Wallstein Verlag Göttingen 2004, 307 Seiten, 28,00 Euro.
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