von Erhard Crome
Wer das Totenschiff von Traven gelesen hat weiß, es ist nichts so schlimm, als daß es nicht noch schlimmer kommen könnte. Dieses Stück wird in Sachen Sozialabbau gerade in Deutschland gegeben. Immer, wenn die Regierung wieder einen Stein aus dem Gebäude der sozialen Sicherungssysteme herausgebrochen hat, und die Gewerkschaften es gerade wieder zähneknirschend akzeptiert haben, weil: es hätte ja schlimmer kommen können, erklärt einer der Vertreter des Kapitalinteresses, daß es zwar ein Schritt in die »richtige Richtung« sei, dies alles aber bei weitem nicht ausreiche … Und das Karrussel der Gebührenerhöhung für Kindergärten, der Rentenkürzung, des Leistungsabbaus im öffentlichen Nahverkehr, der Anhebung der Wasserpreise, weil das Sparverhalten der Bürger die »zugesagten« Profite nicht sprudeln läßt, dreht sich weiter.
Dazu gehört auch der Arbeitszwang für Arbeitslose. Betrachten wir dieses Thema einmal historisch. Im 17. Jahrhundert gab es in vielen europäischen Ländern strenge Gesetze gegen »Landstreicher« und bäuerliche Aufmüpfigkeiten gegen ihre Herren. Die Mehrheit der Bevölkerung akzeptierte dies trotz harter offizieller Strafen stillschweigend, weil sie diese Menschen als arme Hunde und das Recht als unbillig ansah.
In der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts änderte sich das. Mit der starken Vermehrung des Reichtums und dem Anwachsen der Bevölkerung, etwa in Frankreich, zielte die Gesetzwidrigkeit der Bevölkerung weniger auf die Rechte der Herren als auf die Güter, die Rechte des Eigentums. Da die industriellen Investitionen in Waren und Maschinen ganz andere Größenordnungen erforderten, verlangte die Bourgeoisie eine stärkere Verfolgung jener zuvor als minder bedeutsam angesehenen Gesetzesverstöße. Es begann eine Debatte um Rechtsreformen, die dann im 19. Jahrhundert in das moderne Gefängnissystem mündete.
Als »Vorreiter« galt das Zwangshaus in Gent, über das bereits 1749 ausführlich berichtet wurde. Seine »Philosophie« ging davon aus, daß die Übeltäter nicht Arbeiter oder Handwerker sein konnten, denn: Der Arbeiter denkt einzig an die Arbeit, die ihn ernährt und ein gottgefälliges Werk ist. Die Gesetzesbrecher konnten demzufolge nur Taugenichtse sein, die nicht das rechte Verhältnis zur Arbeit haben. Die Einschließung in das Zwangshaus mußte so zum Zwecke haben, jene Arbeitsscheuen mit einer universalen Pädagogik der Arbeit zu beglücken, sie eben zur Arbeit zu zwingen. Zu den Vorteilen gehörte etwa, daß Waldbesitzer, deren Wald durch Landstreicher geschädigt wurde, nicht mehr Steuererleichterungen erhielten, sondern mit dazu beitrugen, daß die Delinquenten verurteilt und in das Zwangshaus eingewiesen wurden. Dadurch kamen diese in den ›Genuß der ungeteilten Nächstenliebe‹, weil das faule Subjekt wieder in den Geschmack der Arbeit kommen konnte und so begriff: Arbeit bringt mehr Vorteile als Faulheit: Wer leben will, soll arbeiten.
In der Zeit der Hegemonie eines marxistisch geprägten oder keyneseanistischen Denkens wurde in Europa weithin die Auffassung geteilt, daß Arbeitslosigkeit und sich ausbreitende Armut gesellschaftliche Phänomene seien, die nur gesellschaftlich zu bekämpfen sind. In Zeiten der »Globalisierung« wird das alte Denkmuster, daß der einzelne selbst an seiner Armut schuld sei, weil mit seinem Fleiß oder an seinem Verhalten etwas nicht stimmt, zur Grundlage von Politik gemacht. Hartz IV ist der Einstieg in den Arbeitszwang in Deutschland. Aber das ist ja noch steigerbar. In den Beschreibungen der Zwangshäuser des 18. Jahrhunderts kann man nachlesen, wie dann etwa Hartz VI aussehen könnte. Aber wir wissen ja bereits: Es hätte noch schlimmer kommen können. Und siehe: Es kommt schlimmer.
Zum Weiter- oder Wiederlesen: Michel Foucault: Überwachen und Strafen, Die Geburt des Gefängnisses (frz. Original 1975, dt. ab 1977).
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