von Jürgen Schaepe
Es war damals vor allem die Zeit der großen Gefühle. Ich erlebte mich in dieser Masse demonstrierender Menschen sehr herausgehoben und doch gleichzeitig als ihr kleiner, aber nicht unwesentlicher Splitter, Bruder unter Brüdern, Mensch unter Menschen, Gleicher unter Gleichen. Es gab zwischen uns allen damals nur das Du.
Lange nach diesen revolutionären und revolutionierenden Ereignissen habe ich erfahren, daß die Psychologen die Gefühle, die mich und uns damals bewegten mit dem Begriff der »Angstlust« beschreiben. Ich würde es – für mich – noch treffender mit Angstglück bezeichnen, denn bei aller Sorge auf Kommendes überwogen doch immer auch tiefe Glücksgefühle. Klar war ja auch: So, wie alles gewesen war, konnte und würde es nicht bleiben. Die Altherrenriege im Politbüro würde so nicht weitermachen können, ein frischerer Wind würde von nun an wehen – unser Wind.
Und dann begann, ohne daß mir der Unterschied zunächst bewußt wurde, ein völlig anderes Lüftchen in unseren eigenen Reihe zu wehen. Die uns alle einende Losung war von einem Tag zum anderen plötzlich eine neue. Nur eine Silbe, eine einzige Silbe machte alles anders, gab eine neue Richtung vor und wurde von einer inneren zu einer äußeren Angelegenheit. »Wir sind ein Volk« hieß es nun, und zunächst war mir nicht ganz klar, ob ich nun ein bestimmtes oder unbestimmtes Zahlwort in die Runde rief. Das unbestimmte war mir das entschieden liebere, denn ich wollte neue Verhältnisse, keinen neuen Staat. Eine Wende, keinen Bruch. Und wenn schon, ja warum denn eigentlich nicht! – dann nicht so schnell, nicht so holterdiepolter.
Als dann aber plötzlich bundesdeutsche Fahnen geschwenkt wurden, war alles klar. Die Geschichte hatte einen anderen Drall bekommen. Spontan? Oder hatte da jemand nachgeholfen? Wo kamen die neuen Fahnen denn so plötzlich her? Wurde aus unserer Revolution blitzartig eine völlig andere? Es schien so zu sein, ein Bruch war vorprogrammiert.
Egal, na wenn schon, auch nicht schlecht, vielleicht sogar besser, dachte ich, dachten wir wohl fast alle. Diese Gedanken leiteten mich damals nicht wirklich stark, sie bohrten lediglich im Unterbewußtsein, wurden vernebelt durch die suggestive, beinahe hypnotische Kraft der Demonstration, deren Teil ich war. Viel stärker war diese Stimmung, dieser jugendliche Elan, das Mitreißende einer neuen Zeit. Es war unsere Zeit. Wir zeigten uns als die Stärkeren, Unbesiegbaren, wie sich von Tag zu Tag mehr zeigte. Und: Wer wollte uns das jemals aus der Hand nehmen!? Nie mehr Fremdbestimmung!
Wie beglückt war ich beispielsweise, als Christoph Ziemer, der Pfarrer unserer Kreuzkirche, wieder einmal Courage zeigte, wie so oft in seinen Predigten, und sich an die Spitze des Demonstrationszuges stellte. So hatte ich mir christliches Engagement immer vorgestellt, Verantwortung zeigen, Mut beweisen und für die Schwachen kämpfen. In einer seiner Christvesperpredigten am Heiligabend hatte Ziemer gedonnert: »Und sie schützen in diesem hochgerüsteten Lande den Frieden, daß einem Angst und Bange werden kann«; umarmen hätte ich ihn wollen und gleich mir die sicher Tausenden, die, wie jedes Jahr zu Weihnachten, stundenlang vor der Kirche ausgeharrt hatten, um wenigstens einen Stehplatz zu ergattern.
Dieser Mann bewies nun abermals Mut. Und er gab uns allen Kraft. Wäre das nicht einer, der künftig unsere Geschicke in führender Position lenken sollte!? Dann war es plötzlich vorbei. Sang- und klanglos, schmachvoll und würdelos brach das alte System zusammen. Die Freude in uns überwog bei weitem die Sorge auf Kommendes. Doch die Freude war beschämend unkritisch, kein Gedanke an mögliche unliebsame Folgen einer derart überstürzten Vereinigung. Im nachhinein schäme ich mich meiner an geistige Umnachtung grenzenden Unbedarftheit und Leichtfertigkeit jener fernen Tage. Das einfache Prinzip von Licht und Schatten, Gut und Böse, Jing und Jang, ich habe es damals angesichts grenzenloser Euphorie übersehen.
Was haben wir in jenen Tagen für Pläne geschmiedet! Der Freund, Diplom-Pädagoge und Diplom-Philosoph, kam nach sieben Jahren Einzelhaft aus Bautzen. Nun würden wir im Bildungswesen endlich, endlich der so notwendigen Medienerziehung in der Schule ihren Platz geben. Große Vorbilder für uns waren die Landesmedienanstalten der alten Bundesländer, derartiges würde es fortan in Sachsen auch geben … Aber ach, viel zu schnell wurde klar, daß es wieder nicht wir waren, die die Richtung der weiteren Entwicklung bestimmten. Die, die das taten, kamen eilends aus den alten Bundesländern, nahmen führende Positionen ein in neuen Verwaltungen und hatten – endlich, endlich! – den entscheidenden steilen Karriereknick nach oben, der ihnen zu Hause wohl niemals beschieden sein würde. Ein regelrechter Wettlauf um Lehrstühle, Ämter, Positionen und Funktionen setzte ein, der mit dem Begriff »Landnahme« nicht völlig übertrieben erklärt ist.
Die wirklich guten Beamten gingen wieder, die Mediokren blieben … Wer sich heute die leitenden Positionen in Kunst und Kultur, Wirtschaft, Bildung, Medizin, der Polizei und der allgemeinen Administration ansieht, der wird staunend bemerken, daß Hiesige – bis auf wenige Ausnahmen – nicht an derartigen Schalthebeln sitzen. Weil sie zu ungebildet sind? Zu schwache Ellenbogen haben? Rhetorisch minder begabt sind? In gewisser Weise fühlen wir uns um die Früchte unseres Widerstandes im Herbst ‘89 betrogen. Sind wir ‘89 wirklich deshalb auf die Straße gegangen?
Was bleibt? Es bleibt ein herrliches, unvergeßliches und starkes Gefühl, dabeigewesen zu sein, Geschicke spürbar in der eigenen Hand gehalten zu haben, der obskuren Altherrenriege im Politbüro gezeigt zu haben, »wo der Hammer hängt« und über erheblich mehr Freiheit zu verfügen als einst im Herbst. Und es bleibt ein schales Gemenge aus Verzagtheit, Melancholie mangelndem Durchsetzungsvermögen, Schwäche eigenen Selbstwertgefühls und Trauer darüber, des Maximums unserer friedlichen Massenerhebung im Herbst ‘89 nicht habhaft geworden zu sein.
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