Des Blättchens 7. Jahrgang (VII), Berlin, 25. Oktober 2004, Heft 22

Der nackte DDR-Bürger

von Herbert Wöltge

Neulich las ich die durchaus unerfreuliche Geschichte der Abwicklung der Bauakademie der DDR 1989 bis 1991. Was darin steht, überrascht nicht, es ist die übliche üble Sache vom Einfall der bundesdeutschen Evaluations-Aliens und des anschließenden Ablebens der heimgesuchten Institution. Es ist nichts anderes passiert als das, was Eberhard Lämmert, der renommierte Berliner Germanist, in einer Sitzung der Hochschul-Strukturkommission des Landes Berlin im Mai 1991 boshaft so ausgedrückt hat: »Wir evaluieren nach dem Raster: Das gibt es in der Bundesrepublik schon, wir brauchen es demnach nicht doppelt, also auflösen. Und: Das gibt es nicht in der Bundesrepublik, wenn es nötig gewesen wäre, dann hätten wir es, es ist demnach überflüssig, also auch auflösen.«
So ist es auch gekommen mit dieser DDR-Bauakademie, sie ist verschwunden, und insgesamt wäre die Sache nicht weiter erwähnenswert in der heutigen Zeit, die ja bekanntlich ganz andere Sorgen hat. Aber da gibt es einen bemerkenswerten kleinen Satz auf Seite 59, der im Abwicklungsdefilée in dieser Großartigkeit so noch nicht gesagt wurde, ein Wort, das ein Weiterwirken verdient hat und das dem schläfrigen Vergessen entrissen werden muß. Es stammt aus altbundesdeutschem Munde, Mitte 1990, noch vor dem Beitritt der DDR. Es lautet: »Wir übernehmen keine Strukturen und Einrichtungen, wir übernehmen den nackten DDR-Bürger.«
Was für ein kraftvolles Bild! Welches Kleinod mentaler Verdichtung! Welche unerreichte Kurzfassung der Abwicklungsgrundsätze! Das ist vorbehaltlos zu bewundern. Hier sitzt, wie Kurt Tucholsky gesagt hätte, jedes Wort. Der Geist der Zeit – hier ist er in knappste Form gegossen. Am Anfang des Satzes steht: Wir übernehmen, an seinem Ende: der nackte DDR-Bürger.
Bisher kannte ich als beste Kurzfassung für die Behandlung von DDR-Intellektuellen im Wendegeschehen nur die Aussage des Hamburger Rechtsgutachters Werner Thieme, der auf die Frage nach dem Schicksal der Gelehrtensozietät der Akademie der Wissenschaften der DDR (in der Zeit vom 30. August 1991) gemeint hatte: »Die läßt man jetzt weitermurksen, man will sie aushungern und einschlafen lassen, und dann wird man sehen.«
Auch war die andere Bemerkung nicht schlecht, die Wolfgang Richter in seinem Weißbuch Unfrieden in Deutschland – Wissenschaft und Kultur im Beitrittsgebiet vorstellte. Als er 1991 mit Siegfried Prokop in Wildbad Kreuth mit CDU-Politikern darüber diskutierte, wie man mit den Intellektuellen in Ostdeutschland umgehen solle, erfuhr er: »Wir werden sie nicht in Lager sperren, das haben wir nicht nötig. Wir werden sie an den sozialen Rand drängen.«
Lange Zeit galt das Rand-Zitat als Single. Nun also hat es in dem nun unverhofft aufgetauchten Nackten-Bürger-Zitat einen Bruder erhalten. Dieser steht noch eine Abstraktionsstufe höher, er umfaßt als seinen Gegenstand nicht nur die randständigen Ostintellektuellen, sondern verallgemeinert auf den DDR-Bürger schlechthin, hat sozusagen universellen Charakter.
Indes darf auf einen Aspekt aufmerksam gemacht werden, der die wissenschaftliche Verwertbarkeit der Aussagen doch etwas schmälert: Die Quellenlage ist ärgerlich unscharf. Richter und Prokop haben ihre Zitat-Hervorbringer nicht identifizieren können, da sich das Gespräch in einer Hotel-Sauna abspielte und die Gesprächsteilnehmer verständlicherweise ihr strukturelles So-Sein nicht offenlegten, sie waren dort nichts als nackte Bundesbürger.
Auch Götz Brand, der Autor der Abwicklungsgeschichte der Bauakademie, hat den Namen des Nackte-Bürger-Zitat-Urhebers schamhaft verschwiegen, von ihm erfahren wir nur, er sei Mitarbeiter des Deutschen Bundesministeriums für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau. Falls ich Brand einmal begegne, werde ich ihn fragen, ob er eine Personifizierung für möglich hält.
Aber darauf kommt es ja nicht an. Die danach einsetzende Wirklichkeit hat dafür gesorgt, daß man die in Rede stehenden Äußerungen getrost für wahr und so gesagt halten kann. Die Soziale-Rand-Aussage ist überzeugend realisiert, wie jeder erfahren konnte, Lager hat es in der Tat nie gegeben.
Die Masse der Betroffenen hat den Rand rasch erreicht und haust seitdem an ihm, sofern der Weg sie nicht noch weiter führte von einer randständigen in eine randlose nackte Existenz. DDR-Strukturen und Einrichtungen wurden nicht übernommen, sie fielen den Widrigkeiten der Zeit und ihrer Unadäquatheit zu den bundesrepublikanischen Strukturen zum Opfer. So wurden nach Manfred Erhardt, dem Abwicklungssenator von Berlin, die Fach- und Ingenieurschulen »ohne Not geschlossen, weil sie sich im Bildungs- und Vergütungsgefüge West nicht haben abbilden lassen« – so auf dem Symposium zum zehnjährigen Abwicklungsjubiläum im Februar 2002 in Berlin.
Auch die Bauakademie, um auf den Ausgangspunkt zurückzukommen, hat sich zu ihrem Pech im Gefüge West nicht abbilden lassen. Erhardts Chefbeamter für die Abwicklung, der Leitende Senatsrat Jochen Stoehr – heute im wohlverdienten Ruhestand – beschreibt, wie listig er an ihrer Destrukurierung mitwirkte, und das liest sich ganz lustig: »… mußten wir die Übernahme von Verantwortung für alles, was nicht zum Kernbereich einer Wissenschaftsverwaltung gehörte, abwehren. Das gelang zum Beispiel in einem anderen kuriosen Fall. Die DDR verfügte außer der Akademie der Wissenschaften ja noch über eine Bauakademie, eine Landwirtschaftsakademie und eine Akademie der Pädagogischen Wissenschaften. Das Bundesbauministerium lud uns mehrfach zu Besprechungen über die Zukunft der Bauakademie ein, denen wir nicht folgten. Schließlich wurden die Akten mit dem Hinweis übersandt, Akademien seien nun einmal nach der föderalen Kompetenzverteilung Landesangelegenheiten. Wir konterten, daß es auch Feinschmecker-Akademien gäbe, die auch nicht Landessache seien, es handle sich nicht um einen eindeutigen technischen Begriff und schickten die Akten mit dem Hinweis auf den Ressortforschungscharakter zurück. Irgendwann gab die andere Seite das Spiel auf.« (Jochen Stoehr: Am Anfang war das Chaos. In: KAI. Entwicklung einer Abwicklung, Berlin 1995, S. 20.) Also es klappt doch. Man muß nur genügend Durchstehvermögen haben.
Nur mit dem Thiemeschen weitermurksen, aushungern und einschlafen lassen der obersten Gelehrten hat es bisher nicht ganz geklappt. Zwar sind sie außer am sozialen auch am Rande der Scientific Community gelandet und sind ganz schön zerzaust, ohne Arbeitsgrundlagen, Vermögen und ohne feste Bleibe – aber: Jaaa, sie murksen noch, als Leibniz-Sozietät sogar in eigener überkommener akademischer Struktur und ohne brüderliche Entwicklungshilfe aus dem Westen. Was außer ihnen nur noch der Deutsche Anglerverband und der Deutsche Motorsport-Verband geschafft haben.

Die Abwicklung der Bauakademie der DDR 1989-1991. Dokumentation aus eigenem Erleben von Götz Brand. Abhandlungen der Leibniz-Sozietät Band 14, trafo verlag Berlin 2003.