Des Blättchens 7. Jahrgang (VII), Berlin, 11. Oktober 2004, Heft 21

Berliner Nahverkehr

von Erhard Weinholz

Spare in der Not, denn da hast du Zeit«, empfahl der Volksmund einst den Arbeitslosen. Doch sollte man selbst in dieser unerfreulichen Lage, die das Sparen geradezu erzwingt, auf Genüsse keinesfalls verzichten. Sie müssen nur erschwinglich sein. »Fahre in der Not …«, kann man daher allen raten, die das Glück haben, in einer Großstadt wie Berlin arbeitslos zu sein und sich eine Monatskarte leisten zu können (da hier seit April der Einzelfahrschein nicht mehr für die Hin- und die Rückfahrt auf gleicher Strecke gilt, lohnt sich so eine Karte allemal). Das wahre Fahrvergnügen stellt sich allerdings erst ein, wenn man sich nicht einfach nur straßauf, straßab durch die Gegend kutschieren läßt.
Vergnüglich ist es zum Beispiel, antizyklisch zu fahren: Während andere sich früh in überfüllte Verkehrsmittel pressen müssen, um den Arbeitsplatz im Zentrum zu erreichen, fährt man selbst zu dieser Zeit in herrlich leeren Bussen oder Bahnen hinaus nach Marzahn oder besser noch nach Waldesruh, Rauchfangswerder oder Müggelheim. Und wenn man weit genug draußen einsteigt, ist einem auf der Rückfahrt ebenfalls ein Sitzplatz sicher.
Reizvoll kann es auch sein, bei solch einer Fahrt ins Vertraute zurückzukehren, ohne dort Station zu machen. Man schaut dann, unterwegs zu ferneren Zielen, gleichsam als Tourist auf sein Wohnviertel, sieht sonst Übersehenes: die Ornamente hoch oben am Eckhaus vielleicht oder ein Ladenschild aus längst vergangenen Zeiten. Und steht da hinten beim Bäcker nicht der Heilpraktiker von nebenan, der mal im NEUEN FORUM …? Schon vorbei. Es sind die Freuden des Aufbruchs, die man so genießt – auch wenn es gar kein richtiger ist.
Unbedingt nutzen sollte man den Schienenersatzverkehr (am besten natürlich ebenfalls antizyklisch). Voriges Jahr wurde zum Beispiel die U5 zwischen den Bahnhöfen Alexanderplatz und Frankfurter Allee rekonstruiert. Die einstige Stalinallee, vielen bis dahin nur aus der Sicht des Fußgängers bekannt, bot sich nun vom Bus aus als zusammenhängendes Ganzes dar. Vorausgesetzt, man bekam den begehrten Platz mit der Panoramaaussicht, gleich vorn hinter dem Einstieg. Das Prachtvolle dieser Allee hatte ich schon oft genossen, aber jetzt erst fiel mir auf, daß die gewaltigen Blöcke, in die sie sich gliedert, auch etwas Abweisendes, geradezu Festungsartiges an sich haben: Bastionen im letzten Gefecht? Inzwischen verkehrt die U5 längst wieder ab Alex. Doch gibt es inzwischen andere Strecken, auf denen sich die Stadt per Schienenersatzverkehr aus neuer Perspektive erleben läßt. Er ist ja ein ständiges Zubehör des Berliner ÖPNV.
Man kann aber auch mit dem Regionalexpreß an den Stadtrand fahren, etwa mit dem RE 4 nach Schönefeld, dem früheren Zentralflughafen. Unterwegs erfreut der Ausblick auf Köpenick und die Müggelberge mit dem Müggelturm. Nach zwanzig Minuten schon ist das Reiseziel erreicht. Drei, vier Leute steigen aus, etwa ebensoviele ein, die Bahnsteige sind fast menschenleer – durch die Maueröffnung ist der Bahnhof Schönefeld allmählich ins Abseits geraten. In der Schalterhalle ist es still. Der Diensthabende am Informationsstand liest Zeitung. In die Räume des schon seit Jahren geschlossenen Ladens für Reisebedarf ist unlängst eine Postfiliale gezogen. Damit die junge Frau dort sich nicht zu sehr langweilt, kaufe ich ein paar Briefmarken – die kann man immer brauchen. Ein Mann mit rotem, verstoppelten Gesicht holt aus seiner Plastetüte eine Bierdose, öffnet sie, zündet sich einen Zigarettenstummel an. Nach einer Weile schiebt jemand, ebenso schäbig gekleidet wie er, sein Fahrrad in die Halle, gesellt sich ihm zu. Leise reden sie miteinander. Der Mann mit dem Fahrrad geht wieder, der andere schläft ein. Niemand stört ihn, weist ihn gar hinaus.
Bis Ende März mußte man für solche Touren, falls man Arbeitslosenhilfe bezog und daher das billige Berlin-Ticket A nutzen konnte, eine reguläre Fahrkarte kaufen. Denn in Regionalbahnen und -expressen galt das Arbeitslosenticket nicht. Seit es abgeschafft ist, braucht man auf dergleichen nicht mehr zu achten.