Des Blättchens 7. Jahrgang (VII), Berlin, 27. September 2004, Heft 20

Unangepaßte Lebensläufe

von Klaus Hammer

Als »vaterlandslose Gesellen« brandmarkte Kaiser Wilhelm II. einst die deutschen Sozialdemokraten, die seine nationalistische Politik nicht mittragen wollten. Etwas abgeändert unter dem Titel Linke Vaterlandsgesellen hat der Berliner Filmemacher Thomas Grimm jetzt Gespräche über und mit bedeutenden Persönlichkeiten des 20. Jahrhunderts zu einem aufschlußreichen Interviewband zusammengestellt. Das sind 17 Lebensläufe, die nicht konform mit der gesellschaftlichen Entwicklung gingen – von Querdenkern, Außenseitern, Verweigerern, unorthodoxen Linken, Grenzgängern, von Wissenschaftlern, Schriftstellern, Künstlern, Journalisten, Diplomaten und Kirchenleuten. Die meisten sind einen Jahrhundertweg gegangen – über Kaiserreich, Weimarer Republik, die Nazizeit, Exil, DDR oder Bundesrepublik bis in die deutsche Wiedervereinigung. Einige von ihnen haben an den Sozialismus geglaubt und sind vor ihm geflohen, alle aber haben Dogmatismus und Menschenverachtung bekämpft, sie haben sich nicht »gleichschalten« oder den Mund verbieten lassen.
Noel Field, als Mitarbeiter im State Department während des Zweiten Weltkriegs für sozial-humanitäre Hilfsorganisationen tätig, ist im Mai 1949 in Prag vom sowjetischen Geheimdienst als »Agent des amerikanischen Spionagedienstes« entführt und während der Schau- und Säuberungsprozesse in osteuropäischen Ländern instrumentalisiert worden. Erst 1954 wurde er aus der Haft entlassen und rehabilitiert. Harro Schulze-Boysen knüpfte den »Gegner«-Kreis, die Plattform eines »Nationalistischen Kommunismus«, deren Freunde zu illegalen Kampfgefährten wurden. Er rekrutierte in den Folgejahren mit der Roten Kapelle die größte Anti-Hitler-Spionageorganisation in Deutschland. Viele ihrer Mitglieder endeten auf dem Schafott, auch Schulze-Boysen wurde 1942 in Plötzensee gehängt.
Der Soziologe und Philosoph Leo Kofler hätte als »geflüchteter Dissident« aus der DDR eigentlich in der BRD willkommen gewesen sein müssen, aber dem bekennenden Marxisten ist eine akademische Karriere in der Adenauer-Ära versagt geblieben. Der international renommierte Leipziger Historiker Walter Markov, Nestor der Revolutionsforschung, hat seinen Antifaschismus mit zehn Jahren Gefängnis bezahlt und sich dennoch niemals verziehen, den Versuch unterlassen zu haben, Hitler zu stürzen. Immer wieder hat er die Rolle und Bedeutung von Gewalt in der Geschichte thematisiert und am Ende seines Lebens ist die historische Negation der DDR auch für ihn eine bittere Wahrheit geworden. Der »Weltverbesserer« Rudolf Bahro erzählt, wie er für einen Sozialismus mit menschlichem Antlitz stritt und welche Irrtümer seine ökologische Philosophie aufwies. Meist hat der geistesgegenwärtige Stückeschreiber Heiner Müller aus dem Talk schnell ein interessantes Einpersonenstück gemacht, so auch im vorliegenden Gespräch über seine Erfahrungen in der DDR und seine Stasi-Kontakte. Wer hat wen benutzt – die Stasi den Autor oder der Autor die Stasi? Dagegen bekennt der Grafiker Klaus Staeck, der mit seinen politischen Plakaten zum Nachdenken anstiften will: Er sei jemand, der Verantwortlichkeit festmache bei anderen und der es sich dann gelegentlich auch gefallen lassen müsse, daß andere bei ihm nach Verantwortlichkeit fragen. Und was der Pfarrer Uwe Holmer tat – den Honeckers 1990 in seinem Pfarrhaus in Lobetal Asyl zu geben – gehört zu den mutigsten Handlungen gegen den damals herrschenden Zeitgeist.
In Dialog und Kontroverse werden Positionen herausgearbeitet, Entscheidungen begründet und Alternativen aufgezeigt, so daß die Lektüre zu einem ebenso spannenden wie nachdenklichen Erlebnis gerät.

Thomas Grimm: Linke Vaterlandsgesellen, Parthas Verlag Berlin, 34,00 Euro.