von Fritz Klein
Mit Wolfgang Mommsen, der am 11. August beim Baden in der Ostsee tödlich verunglückte, starb einer der bedeutenden, national wie international hochangesehen deutschen Historiker. In einer Fülle von gründlich recherchierten, klugen, fakten- und gedankenreichen Arbeiten hat er die Forschung zur Geschichte des Kaiserreichs, des Imperialismus und des Ersten Weltkriegs bereichert und wesentlich zur Herausbildung eines Geschichtsbildes beigetragen, das die apologetischen Züge der traditionellen deutschen Geschichtswissenschaft überwand und den Anschluß an die moderne, liberale Geschichtswissenschaft der westlichen Länder herstellte. Bleibendes Verdienst erwarb er sich mit der Initiative zu einer editorischen Meisterleistung, der Gesamtausgabe der Schriften Max Webers.
Zwei Aspekte deutsch-deutscher Historikerbeziehungen kommen dem ehemaligen DDR-Historiker heute in den Sinn, der auf ähnlichen Gebieten arbeitete wie Wolfgang Mommsen und ihm seit Jahrzehnten häufig begegnete, nicht selten im Streit, dabei aber doch mit Respekt vor ernsthafter wissenschaftlicher Arbeit, die man zur Kenntnis zu nehmen hatte, auch wo man nicht übereinstimmte – eine streitbare Beziehung, die in den letzten Jahren zur Freundschaft wurde. Da gab es zum ersten die erbitterten Auseinandersetzungen unter den Historikern der DDR, die sich im Laufe der sechziger Jahre über die Frage entspannen, wie man mit einer neuen Tendenz in der westdeutschen Geschichtswissenschaft umgehen solle. Wolfgang Mommsen und sein Zwillingsbruder Hans, hervorgetreten vor allem mit Arbeiten zu Weimarer Republik und Nationalsozialismus, erschienen damals als Protagonisten einer wachsenden Schar westdeutscher Historiker, die sich von den bis dahin herrschenden konservativen und reaktionären Tendenzen westdeutscher Geschichtsbetrachtung lösten. Eine neue Generation von Historikern wuchs heran, bereit zu nationaler Selbstkritik, die nicht Nestbeschmutzung war, sondern Voraussetzung für ein ehrliches Verhältnis zur deutschen Vergangenheit.
Wissenschaftlich war das verbunden mit der Aufgeschlossenheit für die Methoden einer modernen Gesellschaftsgeschichte. Die Wissenschaftspolitik der DDR kam in eine schwierige Lage. Man konnte die Abkehr von alten Stereotypen und die Hinwendung zu moderneren, politisch fortschrittlicheren Auffassungen, die in aller Regel – ungeachtet der auch von diesen Jüngeren betonten Ablehnung marxistisch-leninistischer Orthodoxie – auch eine gewisse Aufgeschlossenheit gegenüber marxistischen Thesen und Methoden aufwiesen, positiv werten und sich im Sinne einer auf Verständigung und Ausgleich orientierten Politik um Kontakte mit den Vertretern dieser Tendenz bemühen, was die Offenheit gegenüber ihren wissenschaftlichen Methoden und Ergebnissen einschloß. Man konnte aber auch, in Fortsetzung traditionell sektiererischer Klassenkampfwachsamkeit von Kommunisten, in den Vertretern der neuen Tendenz besonders abgefeimte Gegner erblicken, die ihre Unterstützung des imperialistischen Systems nur hinter fortschrittlichen Redensarten tarnten. Dann waren »die Mommsens« besonders fragwürdige Gesellen (expressis verbis wurde damals so von einigen Eiferern argumentiert). Der Streit vergiftete einige Jahre hindurch die innere Atmosphäre unter den Historikern der DDR. Offiziell setzte sich die zweite Linie durch, wie etwa an der Rezensionspraxis der Zeitschrift für Geschichtswissenschaft zu erkennen ist. Auf die Dauer zeigte sich, daß an den neuen Ergebnissen und Methoden der jüngeren westdeutschen Historiker nicht vorbeizukommen war, was allmählich zu zivilisierteren Formen des Umgangs miteinander führte.
Zum zweiten ist an die einflußreiche Rolle zu erinnern, die Wolfgang Mommsen, von 1988 bis 1992 Vorsitzender des Verbandes der Historiker Deutschlands, in der Zeit der »Wende« spielte. Ende September 1990 fand in Bochum die 38. Versammlung deutscher Historiker, wie der offizielle Name lautete, statt. Noch bestand die DDR. Ihr Ende aber, und damit auch das ihres Wissenschaftssystems, war durch den Einigungsvertrag, der den »Beitritt« der DDR zur Bundesrepublik auf den 3. Oktober 1990 festgelegt hatte, besiegelt.
Lebhaft diskutiertes Thema in Bochum war die Stellung zur Geschichtswissenschaft und den Historikern der DDR. Unabweisbar stand eine gründliche Erneuerung der in der DDR durch parteipolitische Instrumentalisierung schwer beschädigten Geschichtswissenschaft auf der Tagesordnung, am leidenschaftlichsten gefordert von jüngeren DDR-Historikern, die sich in einem Unabhängigen Historikerverband zusammengeschlossen hatten. Worin aber sollte sie bestehen? Erstaunlich im Lichte der späteren Entwicklung waren Töne, die Mommsen als Vorsitzender des Verbandes in seiner Eröffnungsrede anschlug. Er ließ keinen Zweifel an seiner Ablehnung des erstarrten marxistischen Geschichtsbildes, das in der DDR zur Staatsdoktrin erhoben worden sei, fügte aber mahnend hinzu, dies solle nicht bedeuten, die ursprünglich marxistischen Ansätze zum alten Eisen zu werfen. Sie sollten vielmehr im Rahmen eines pluralistischen Wissenschaftssystems als konkurrierende Forschungsansätze ernstgenommen werden.
Die besondere Sorge des Verbandes gelte der Entwicklung der geschichtswissenschaftlichen Institutionen in der ehemaligen DDR. Die notwendige Überwindung der ideologischen Residuen des bisherigen Wissenschaftssystem müsse in erster Linie, wenn auch mit westdeutscher Hilfe, von den betroffenen Kollegen selbst geleistet werden. »Mit pauschalen Streichungsmaßnahmen großen Umfangs, wie sie ursprünglich besonders für die Zentralinstitute der Geschichtswissenschaft an der Akademie der Wissenschaften der DDR geplant waren und wie sie an den Universitäten drohen, wäre wenig gewonnen.« Ausschließlich nach wissenschaftlichen Gesichtspunkten solle die Umstrukturierung der Institutionen erfolgen, unter maßgeblicher Beteiligung von Gutachtergremien, an denen »auch« westdeutsche Wissenschaftler mitwirken.
Was dann tatsächlich geschah, war das krasse Gegenteil. Die Akademie-Institute wurden fast ausnahmslos »abgewickelt«, evaluiert von Kommissionen, die ganz überwiegend aus westdeutschen Wissenschaftlern bestanden, flankiert von dem einen oder anderen DDR-Wissenschaftler. Massive Fremdbestimmung führte zur drastischen Veränderung des
Personalbestandes an den historischen Instituten der Universitäten. Marxistische Forschungsansätze konnten sich kaum behaupten gegen die übermächtige Tendenz genereller Stigmatisierung des Marxismus. Offensichtlich hatte Mommsen sich gründlich geirrt in seinen Vorschlägen, mit denen es ihm ernst war. Er hatte den politischen Willen im Westen unterschätzt, dem es nicht um Vereinigung mit einem anderen, sondern um Abschaffung des anderen ging, unterschätzt die Energie westdeutscher wenig privilegierter Wissenschaftler, die Chance freigemachter Positionen im Osten zum eigenen Vorteil zu nutzen, unterschätzt wohl auch den radikalen Antikommunismus oppositioneller DDR-Historiker vom Unabhängigen Historikerverband, hinter dem man nicht allzusehr zurückbleiben mochte. Überschätzt hat er sicher den Erneuerungswillen in der Historikerschaft der DDR, der in der Tat schwach entwickelt war, durch die Abschaffung der Institute und Lehrstühle aber auch in Grenzen gezwungen wurde, die schwer zu überwinden waren.
Wozu diese Erinnerung an Dinge, die längst ungut entschieden sind? Man wird nicht vergessen, daß wenig zu hören war von Wolfgang Mommsen, als die Entwicklung anders verlief, als er sich vorgestellt hatte. Zu denken ist auch an die Verhandlungen zwischen den Vorständen von Historikergesellschaft der DDR und seinem Verband im Frühjahr 1990, in denen er darauf hinwirkte, eine irgendwie gleichberechtigte Weiterexistenz der Historikergesellschaft unmöglich zu machen. Einzelnen DDR-Historikern freilich versuchte er zu helfen, rettete ein wichtiges Vorhaben des Instituts für deutsche Geschichte der DDR-Akademie, die Arbeitsstelle der Jahresberichte zur deutschen Geschichte, gehörte auch nicht zu jenen Eiferern des Verbandes, die in Bochum ein generelles Verbot der Mitgliedschaft von DDR-Historikern durchsetzen wollten.
Bei alledem scheint es mir legitim, heute an den Wolfgang Mommsen zu erinnern, der sich geirrt hat. Kontrafaktisches Denken in der Geschichtsbetrachtung ist in Mode gekommen. Wir meinen, eine Zeit nur ganz zu verstehen, wenn man auch ihre nicht genutzten Möglichkeiten ins Auge faßt: Möglichkeit als Teil der Wirklichkeit, wie Musil es in seinem großen Roman Mann ohne Eigenschaften eindrucksvoll herausgearbeitet hat. In diesem Sinne sei an die Gedanken der Vernunft, des Ausgleichs und der Mäßigung erinnert, mit denen sich Wolfgang Mommsen in einem dramatischem Moment schmerzhafter Entwicklung zu Worte meldete.
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