Des Blättchens 7. Jahrgang (VII), Berlin, 30. August 2004, Heft 18

Montags immer

von Erhard Crome

Eine »Volksfront« sah der Kanzler keimen und hat sie rasch denunziert. Er sagte es in seinem hilflosen Frust über die Montagsdemonstrationen. Es scheint ihm ähnlich zu gehen wie einstmals Erich Honecker; der wußte mit den Protesten auch nichts anzufangen, fand sie ungerecht, da er ja so eine »gute Politik« machte, die er von »ewigen Nörglern und Meckerern« nicht schlecht machen lassen und diesen also »keine Träne nachweinen« wollte.
Nun also »Volksfront«. Wußte Schröder eigentlich, was er da gesagt hat? »Volksfront« war die neue Politik der kommunistischen Parteien ab Mitte der 1930er Jahre, um über alles sonst Trennende hinweg mit Sozialdemokraten, Bauernorganisationen, »kleinbürgerlichen« Parteien und allen anderen zusammenzuarbeiten gegen die Nazis, die damalige Hauptpartei des Kapitals. Die bürgerlich-demokratischen Freiheiten sollten gegen deren Demontage und Verneinung durch die Faschisten verteidigt werden. Wenn nun also Bisky und Merkel, PDS und CDU eine »Volksfront« seien, wo, auf welcher Seite sieht sich dann Schröder? Da nicht anzunehmen ist, daß er mit seiner Invektive die eigene Politik zur Kenntlichkeit bringen wollte, muß ich nun darauf bestehen, Gerhard Schröder gegen ihn selbst zu verteidigen. Das kann er ja nun wirklich nicht gemeint haben …
Angela Merkel ließ derweil verlauten, der Kanzler werde »nervös«. Das ist zwar auch kein Beitrag zur Sache, aber immerhin eine Beobachtung, sozusagen aus naturwissenschaftlicher Sicht. Das Volk wird unruhig, nicht weil es »Hartz« nicht verstanden hat, sondern weil es sehr wohl versteht, was die Herrschenden und ihre Regierer im Schilde führen. Die für die Wirtschaftssphäre der schönen neuen Welt des Neoliberalismus überflüssigen Bevölkerungsteile werden einer in der bisherigen Geschichte der BRD ungekannten Zwangsverwaltung überantwortet, die Datenschutz und Individualabstand nicht mehr kennt. Zugleich wird auf dem Wege der Einführung von Ein-Euro-Jobs »der Reichsarbeitsdienst in neuem Gewand eingeführt«. So hat das jedenfalls der Thüringer DGB-Vorsitzende Frank Spieth kürzlich formuliert. Gewiß, bei der Behandlung derjenigen, die längst ganz unten angekommen sind, wird sich nicht viel ändern, aber daß Leute, die sich bisher zum »Mittelstand« rechneten und diesen Weg nach unten nun vor sich sehen, dem gleichen Schicksal überantwortet werden, das ist neu. Dies erklärt zum Teil das Ausmaß des Protestes.
Und hier ist auch ein Vergleich zu 1989 sinnvoll: Die Schlagkraft der Bewegung wurde nicht nachhaltig, als kleine Gruppen in der Kirche zu protestieren begannen, sondern als die Mitte der Gesellschaft in Bewegung kam.
Weshalb der Unmut der Regierten besonders die Sozialdemokraten als Regierende trifft, hängt auch mit deren ursprünglich abgegebenen Willenserklärungen ab, um derentwillen sie 1998 gewählt und 2002 – trotz aller Bedenken – im Osten wiedergewählt wurden. So hieß es beispielsweise in der Berliner Erklärung des Forums Ostdeutschland der Sozialdemokratie vom 2. November 1996: »Wir wollen, daß neue Wege beschritten werden, damit mehr Menschen wieder Arbeit finden. Wir wollen, daß dabei endlich auch auf die Erkenntnisse und Erfahrungen der Menschen in Ostdeutschland gebaut wird. Sie müssen endlich leisten dürfen, was sie leisten können. Denn ohne sie geht es nicht. Das Forum Ostdeutschland der SPD möchte diese Kraft der Menschen in den ostdeutschen Ländern bündeln, ihr Selbstbewußtsein stärken und ihr Sprachrohr sein.« Es gehört schon reichlich Zynismus dazu, Hartz IV als Umsetzung jenes politischen Programms zu interpretieren.
Der Terminus »Volksfront« ist aber vor allem auch deshalb falsch, weil wir es mit einer historisch ganz anderen Konstellation zu tun haben. Die Bruchlinie ist die zwischen dem »Geist von Davos« beziehungsweise dem »Washingtoner Konsensus« auf der einen und dem »Geist von Porto Alegre« auf der anderen Seite; einerseits also das bereits von Margaret Thatcher verkündete Prinzip »TINA« – »There is no alternative« – des Neoliberalismus, mit dem auch hierzulande jede soziale Grausamkeit im Interesse des Kapitals durchgepeitscht wird, und andererseits der Traum des Weltsozialforums, der von Porto Alegre ausging: »Eine andere Welt ist möglich.«
Schaut man sich das Feld der derzeitigen Parteienkonstellation in Deutschland an, so sind nicht nur die beiden Parteien der Regierungskoalition im Bund, sondern auch die drei bürgerlichen Parteien auf der Davos-Seite. Also: nix »Volksfront«. Die PDS hat mit den politischen Stellungnahmen der Bundespartei und den Aufrufen auf Länderebene oder in Städten und Gemeinden, Hartz IV abzulehnen und sich an den Montagsdemonstrationen zu beteiligen, die Position von Porto Alegre eingenommen. Zumindest ist dies die politische Botschaft. Gleichzeitig werden von der SPD und den bürgerlichen Medien hier Reibungspunkte, zumindest in den Koalitionen in Berlin und Mecklenburg-Vorpommern, ausgemacht. Die Berliner Zeitung etwa hat süffisant darauf verwiesen, daß der Aufruf zur Teilnahme an der Berliner Montagsdemo am 16. August von der stellvertretenden Landesvorsitzenden unterzeichnet worden sei, während Landesvorsitzender Liebich im Urlaub war. Dieser werde dann dem SPD-Koalitionspartner einiges zu erklären haben … Man meint, seine Pappenheimer zu kennen, schließlich wurde auch PDSseitig in den vergangenen Jahren in der Berliner Landespolitik ausgiebig das TINA-Prinzip zelebriert.
Im Grunde aber wäre dies die eigentliche politische Innovation linkssozialistischer Politik: sich im Unterschied zu den seit je vorhandenen Kleingruppen fundamentaloppositioneller Rabulistik auf eine wirkliche Politik zugunsten der Menschen einzulassen und zugleich Distanz zur breiten TINA-Koalition zu wahren. Es wird sich in den nächsten Wochen erweisen müssen, ob die derzeit, zumal in Berlin, in der PDS Verantwortung Tragenden diesen Spagat zu leisten vermögen. Oder ob einige Wortführer doch die Rolle rückwärts zu TINA machen, um nicht aufzufallen, oder weil sie nicht wagen, dem gewaltigen Druck der Kapitalseite und der übergroßen Mehrheit der anderen Parteien standzuhalten. Es ist eine Frage des Charakters.
Übrigens, einer der Vorwürfe der TINA-Koalitionäre lautet immer wieder: Welche Alternative habt ihr denn anzubieten? Die Antwort sollte laut und vernehmlich sein. Wenn 86 Prozent der Menschen in Deutschland für ein bedingungsloses, bedarfsdeckendes Grundeinkommen sind, sollte die öffentliche Debatte darüber, statt über Hartz IV, geführt werden. Die Finanzierung ginge über eine Umsteuerung des Steuersystems: Wertschöpfungsabgabe und stärkere Besteuerung der Vermögenden, beginnend mit der Wiedereinführung der Vermögenssteuer. Eine andere Welt ist möglich, auch in Deutschland.