von Detlef Kannapin
Ich habe es wirklich nicht mehr für möglich gehalten. Nach den Rossinis, Late Shows, Unberührbaren, Good Byes auf die eingebildete DDR und den Gegen-die-Wand-Fahrern erhebt sich aus den Flachheiten der Konvention des hiesigen Kinobetriebs ein für kaum mehr möglich gehaltenes soziales Zeitbild, das seit einigen Wochen mit gutem Erfolg in den Filmtheatern zu sehen ist. Welcher Vorfall ereignet sich denn da, daß so urplötzlich ein Film aus der gesellschaftlichen Agonie hervorprescht und das Medium als soziales Genre wiederbelebt?
Der Film heißt Muxmäuschenstill und ist faktisch eine Low-Low-Budget-Produktion mit ganz allergeringsten Produktionskosten. Sein Drehbuchautor und Hauptdarsteller ist Jan Henrik Stahlberg, der Regisseur Marcus Mittermeier. Die Namen wird man sich merken müssen. Stahlberg spielt einen Herrn Mux, der beschlossen hat, die Bürger der Bundesrepublik Deutschland vom falschen Wege der Rechtsübertretung auf den richtigen der Rechtgläubigkeit zurückzubringen. Er fordert Einsicht, preßt den Übeltätern Geld ab und muß manchmal, für ihn unvermeidliche, Personenschäden der Delinquenten »in Kauf nehmen«.
Verfolgt werden Landstraßenraser, Schwarzfahrer, Verunreiniger öffentlicher Plätze, Graffitisprayer und andere »Kleinstkriminelle«, aber auch Vergewaltiger, Exhibitionisten, Erpresser und in der eigenen Familie mordende Väter. Sein Mitarbeiter Gerd, ein Langzeitarbeitsloser, hält alle Eingriffe von Mux auf Video fest. Die Filmberichte werden dann im selbsterbauten Archiv mit den Daten der Verfehlung, den Strafparagraphen und den Namenskürzeln der Täter ergänzt. Der Besitz von Kinderpornographie ist genauso ein dringliches Thema wie die Läuterung einer älteren Dame, die ihre türkischen Nachbarn nun nicht mehr ärgert, sondern sich für ein freies Kurdistan engagiert. Irgendwann expandiert Mux und wird öffentlich bekannt. Nur die moralische »Verwerfung« seiner angebeteten Gretchen-Figur, die sich anderen Männern zuwendet, läßt Mux von der konsequenten Fortführung des »Rechtsweges« abschweifen. Er kann sein »Manifest der Rechtspflege« nicht zu Ende schreiben. Er bringt das Gretchen um und ist danach nicht in der Lage, sich selbst zu töten. Mux wird schließlich im italienischen Exil in Ausübung seines Dienstes von einem Auto überfahren. Der Film endet im Stillen.
Vordergründig, und das erzählen die üblichen Kritikaster von Boulevard und Ambition, geht es um das moralische Problem der Selbstjustiz in Zeiten des offensichtlichen Versagens der normalen Rechtsprechung. Vordergründig ist dieser Mux ein Zyniker, der auf die Gebrechen der Gesellschaft eigenmächtig reagiert. Vordergründig halten wir, die Zuschauer, im zynischen Mikrokosmos der Darstellung den Atem an und sollen später Ja und Nein zum Anliegen des Films murmeln …
Nun denn, das Ganze reicht tiefer. Im eigentlichen Sinne vollzieht der Film eine kaum noch verhüllte Kehrtwendung von einer rein individuellen Interpretation dieses Herrn Mux hin zur sozialen Destruktivität der Zeit. Unter der Oberfläche eines rechthaberischen, irrsinnigen Einzelvorgangs enthüllt sich der Prozeß sozialer Auflösung. Es ist weiterzudenken: Die Ökonomie hält nicht mehr haus, die Politik ist korrumpiert, die Sozialverhältnisse spotten jeder zivilisatorischen Aneignung, und die Kultur paßt sich dem Jammertal erhaben an.
Unter diesem Blickwinkel hätte ich mir die enttäuschenden sieben Schlußminuten des Films mit dem irrationalen Mord an Gretchen und dem überkonventionierten Tod des Mux anders gewünscht. Warum darf der Zyniker nicht weiterleben? Interessant wäre der Inhalt des noch zu schreibenden Manifests. Könnte Mux politisiert werden? Zum ersten Mal in der Geschichte des Serienfilms wäre ein Mux 2 – Die Wiederkehr vom politischen und ästhetischen Standpunkt gerechtfertigt gewesen. So ein Film müßte, zwangsläufig, lauter sein.
Muxmäuschenstill; BRD 2004; Regie: Marcus Mittermeier; Drehbuch: Jan Henrik Stahlberg; Darsteller: Jan Henrik Stahlberg (Mux), Fritz Roth (Gerd), Wanda Perdelwitz (Kira, »Gretchen«) u.a.; Farbe; 90 Minuten; seit 8. Juli 2004 in den Kinos.
Schlagwörter: Detlef Kannapin