Des Blättchens 7. Jahrgang (VII), Berlin, 16. August 2004, Heft 17

Klassenkampf im Sommerloch

von Stefan Bollinger

Früher war alles besser, da war ein Sommerloch noch ein Sommerloch. Heute gibt es nur Sommertragödien: Der Sozialstaat Bundesrepublik steht unter Dauerfeuer.
Die Einschläge kommen näher, werden wirksamer. Hauptziel: möglichst baldiger Exitus des Sozialstaates, Nebenziel: runter mit den Löhnen, weg mit allen Regulierungen sowie mit allen potentiellen Gegenmächten. Das Rezept funktioniert. Knappe Kassen überzeugten noch jeden. Wen kümmert’s, daß sie zuvor geplündert wurden und Besserverdienende und Konzerne immer weniger zahlen? Hauptsache, Vodafone spart Steuern, und Ackermann wie Esser können sich’s wohlsein lassen. Da erfreut das Zehn-Prozent-Opfer der Daimler-Manager. Sie werden’s verkraften, während es in den Börsen der Arbeiter und Angestellten sich schon bemerkbar macht. Über vier Billionen Euro Geldvermögen, über 750000 Euro-Millionäre und ein halbes Prozent der Bevölkerung, dem ein Viertel der Vermögen gehört – über die mag eh keiner reden. Die wichtigste Freiheit bleibt eben die unternehmerische.
So wie einst Kaiser Nero wütete, können heute Hartz und Clement austeilen. Die deutschen Bosse sekundieren eifrig mit immer frecheren Vorstößen. Allein CDU/CSU-Kollegen wirken verstört. Merzgeschwängert wollen sie die Regierung überholen, wo rechts kaum Platz ist. Nur manch Nachdenklicher in der Union, auch jenseits des Weißwurstäquators, gruselt es ob der (Wahl-)Folgen: Laßt das doch die Sozen allein durchziehen.
Fordern und fördern sind heute Zauberworte der Sozialdemontage. Aber das Volk hält still und harrt der Dinge, die da kommen. Medien und einige Politiker kommen aus dem Mustopf und sind entsetzt, daß die armen Arbeitslosen auch noch ihrer informationellen Selbstbestimmung und der Kindersparbücher verlustig gehen.
Wo leben diese Politiker, haben sie vergessen, daß sie die Gesetze selber beschlossen, daß 4,3 Millionen Menschen von der Sozialhilfe leben, und immerhin 6,6 Prozent der Kinder? Wo leben die Medien, die Bürger? Leider ist es nicht mehr so wie in der DDR, da das ND alle Beschlüsse im Wortlaut veröffentlichte und die Kunst des Zwischen-den-Zeilen-Lesens gepflegt ward. Wir haben nun die Freiheit und PISA, da kann man nicht mal mehr das lesen, was seit 2002 Hartz verkündete, geschweige denn, was ab Sommer 2003 als Gesetzesentwurf herumgeisterte. Wer kann sich außer einem mecklenburgischen Arbeitsminister naiv wundern, daß die Zusammenlegung von Sozial- und Arbeitslosenhilfe (ach, so schön rationell) Folgen hat. Da könnte man doch auf ein paar öffentlich Bedienstete und Ämter verzichten. Wieviel Kapitalismuslektionen brauchen er, die Bürger, auch die Linken, noch, um zu begreifen, daß »Harmonisierung« nach dem Fall des Ostblocks und der Kastrierung von SPD wie Gewerkschaften ein Fahrstuhl nach unten ist?
In ihrer zweiten Wahlperiode trat die Bundesregierung zum Generalangriff auf den Sozialstaat an. Der war nie ein Geschenk der Herrschenden, sondern ihnen immer in sozialen und politischen Kämpfen gerade von Sozialdemokraten abgetrotzt oder von seiten der Herrschenden in Abwehr der einzig wirklichen Gefahr, dem Sozialismus und der kämpfenden Linken, gewährt. Seit Bismarcks Sozial- wie Sozialistengesetzen hat sich in der Form viel, im Ziel wenig geändert. Mit der DDR konnte 1989/90 endlich der Ausbruch eines knappen Halbjahrhunderts in dem Moment kassiert werden, da die Kommunisten es nicht mehr verstanden, die Bürger bei der Fahne zu halten. Seit dem Ende von DDR und Ostblock hat auch in Deutschland der Neoliberalismus freie Bahn.
Nur bekamen das viele nicht mit. Sie sahen 1998 in Sozialdemokraten und Grünen eine Alternative, die den sich schon bei Kohl angeheizten Zug in die neue, entsozialisierte und entsicherte Zeit stoppen sollte. Nur wollten Schröder & Co. dies nicht begreifen und sahen sich spätestens mit dem Abgang Lafontaines in der Pflicht, der »deutschen Wirtschaft«, den Kapitalisten aufzuspielen.
Die potentiellen Alg II-Empfänger (noch mehr die Nicht-Empfänger), sollen sich von ihren Partnern durchfüttern lassen, ihr sauer Erspartes auf den Kopf klopfen und sich der grundgesetzlich garantierten Menschenwürde und der Freiheitsgüter entledigen. Dummerweise haben viele, die sich heute über deren Schicksal mokieren, nicht kapiert, daß die »industrielle Reservearmee« nur das Sekundärziel darstellt. In Wahrheit geht es um die noch stolzen Arbeitsplatzbesitzer. Sie sollen diszipliniert, zurechtgestutzt und letztlich vielfach doch auf dem Altar des Kapitals geopfert werden. Es ist nur eine Frage der Zeit, bis auch sie begreifen, daß sie künftig genau drei Jahre vom Sozialhilfeniveau entfernt sind, der staatlich legitimierten Armut. Adé, du schöne Konsumwelt, Welt der Kultur, des Urlaubs und der familiären Harmonie.
Im Osten werkeln unentwegte Widerständler an der Reanimation der Montagsdemos, Professor Grottian von der Berliner FU will den zivilen Ungehorsam mit Lumpendemos und Arbeitsagentur-Besetzungen sowie einen heißen Herbst. Nur unsere stolzen Gewerkschaften sind schon an die Kette gelegt. Und die PDS guckt trotzig in die Welt, profitiert bedingt vom Politikfrust, macht in Berlin und Schwerin eine Politik des kleineren Übels wohl oder übel – ja eben übel – mit. Ein bißchen schwanger geht nicht, ein bißchen Sozialverträglichkeit auch nicht.
Wann feuert ein SPD-Ministerpräsident einen seiner PDS-Minister wegen sozialer Renitenz? Wo steht in den Parteisatzungen, daß Koalitionen für die Ewigkeit sind? Warum dürfen sich Landesregierungen nicht asozialen Gesetzen widersetzen: Widerstandsrecht nach Art. 20 Grundgesetz gegen die Zerstörer der sozialstaatlichen Ordnung. Natürlich liefe eine solche Politik Gefahr, »Bundeszwang« nach Art. 37 GG zu provozieren, die unselige Reichsexekution des Jahres 1923 scheint auf. Aber wer spielt schon mit solchen Gedanken, solange es noch ein Bundesverfassungsgericht gibt?
Wo bleibt der Generalstreik, der alleine Halt gebieten kann? Ohne Widerstand geht dieses Land vor die Hunde. Begreifen das Linke, das Volk – oder werden die Linken, aber vielleicht auch konservative Demokraten nur wieder die Nachrufe auf die guten alten Zeiten schreiben – mit dem noch verbliebenen Bleistiftstummel bei der bewilligten kleinen Ölfunzel. Die Uhr tickt.