von Wolfram Adolphi
Es hatte Bedacht gewaltet, als der Reiseveranstalter das Hotel ausgewählt hatte für unsere deutsche Japan-Reisegruppe in Hiroshima: Schon von der Dachterrasse aus, wo das Frühstück gereicht wurde, fiel der Blick auf den heiwa ko’en, den Friedenspark: jene heute mit üppigem Laubbaumbewuchs bedeckte Halbinselspitze am Zusammenschluß der Flüsse Otagawa und Motoyasugawa, die damals, am 6. August 1945, beim Atombombenabwurf durch die Streitkräfte der USA, dicht an dicht bebautes Siedlungsgebiet gewesen und in wenigen Sekunden im dramatischsten Sinne dieses Wortes gänzlich leergefegt worden war. Deutlich zu sehen auch gleich dahinter, über den nur schmalen otoyasugawa hinweg, der genbaku domu, der Atombomben-Dom: die Ruine der früheren Industrie- und Handelskammer der Stadt.
Dieses in Stein und Stahl nach Plänen eines tschechischen Architekten ausgeführte Gebäude gehörte in einem Umkreis von zwei Kilometern vom Epizentrum der Atombombenexplosion, in dem alle – es ist zu wiederholen: alle – der ansonsten ausschließlich aus Holz gebauten Wohnhäuser von der Druckwelle hinweggerissen worden sind, zu den ganz wenigen Bauwerken, von denen wenigstens ein paar Mauern dem Explosionssturm zu widerstehen vermochten, bevor die gewaltigen Brände, die rasch die ganze Stadt erfaßten, auch von ihnen nur noch Trümmer übrig ließen. Die Reste der anderen dieser Steingebäude sind dem Wiederaufbau gewichen – das Skelett der Turmkuppel und die angrenzenden Fassadentrümmer hingegen bilden auch heute noch ein weithin sichtbares Erinnerungszeichen.
Ich hatte mich gewappnet gewähnt bei dieser meiner zweiten Begegnung mit Hiroshima. Hatte geglaubt, der Besuch vor zwanzig Jahren habe mich mit genügend Rüstung versehen, damit ich nun ohne Aufwallung das Gelände würde durchschreiten können, aber es half alles nichts. Es ist ein unberührtes Vorbeikommen nicht möglich schon an der Skulptur am straßenseitigen Eingang des Parkes, die eine tief gebückt sich vorwärts schleppende Frau darstellt mit einem Kind vor der Brust und einem zweiten, das sich verzweifelt von hinten an ihr festzuklammern versucht. Da ist ganz und gar nichts Heroisches in dieser Muttergestalt, kein triumphierendes »Nun erst recht«, sondern nur nackter, verzweifelter Überlebenskampf und sonst nichts.
Dann, hinter einem großen Wasserspiel, das mit immer wieder wechselnden steil aufschießenden oder sanfte Bogen bildenden großen und kleinen Fontänen dem millionenfachen Schrei der Bewohner der brennenden Stadt nach Wasser Symbolkraft gibt, das von Japans Meisterarchitekt Kenzo Tange 1953 entworfene schlichte, flache, auf zartgliedrigen Säulen ruhende Friedensmuseum, und schließlich die symbolische Grabstätte, vereinend die Gräber von 200000 – in Worten: zweihunderttausend – von dieser einzigen Bombe getöteten Menschen. Kenzo Tange hat sich für diese Grabstätte der klassischen, aus der Zeit zwischen dem 4. und 7. Jahrhundert stammenden Form des haniwa bedient – einer ganz einfachen, völlig schmucklosen, früher tönernen, hier aus Beton geformten nach oben abgerundeten und an den Schmalseiten offenen dachförmigen Struktur, die den Seelen der Toten Trost bieten und sie vor den Unbilden der Witterung schützen soll. Größe und Standort des haniwa von Hiroshima sind so gewählt, daß, wer vor ihm im Gedenken verharrt, durch den fast ein wenig tunnelähnlichen Bogen hindurch ganz zwangsläufig und mit überwältigender Fokussierung wiederum das Kuppelskelett des Doms erblickt.
Ein wenig abseits der von Bäumen freigehaltenen Sichtachse zwei weitere Denkmale. Eines ist berühmt und auf der ganzen Welt bekannt: die Bronzefigur eines Mädchens, das, auf den nach oben ausgebreiteten Armen einen aus Papier gefalteten Kranich tragend, auf einem hohen bombenähnlichen Metallsockel steht und einen Sieg über die Bombe symbolisiert, der ihm selbst nicht vergönnt gewesen ist. Geschaffen worden ist dieses Denkmal 1958 von Kazuo Kikuchi im Gedenken an die 1955 an der Strahlenkrankheit gestorbene, zwölf Jahre alt gewordene Sadako Sasaki, die von den tausend Papierkranichen, mit denen man einem alten Glauben folgend den Tod besiegen kann, nur 653 noch zu falten vermochte.
Das andere Denkmal ist jüngeren Datums und erst nach langen politischen Auseinandersetzungen entstanden. Es besteht aus einer schwarzen steinernen Stele, die von einer Schildkröte getragen wird, und ist den vielen Tausenden Koreanern gewidmet, die durch den Atombombenabwurf in Hiroshima ums Leben gekommen sind. Seine Existenz ist wichtiges Zeichen eines noch immer nur zögerlichen, aber doch sichtbaren Umdenkens.
Über Jahrzehnte hinweg war das Schicksal der in den dreißiger Jahren aus der seinerzeitigen japanischen Kolonie Korea als Arbeitssklaven nach Japan verschleppten Frauen und Männer in der japanischen Öffentlichkeit vollständig tabu. Die Betroffenen hatten japanische Namen annehmen müssen, Aufarbeitung und Aufklärung wurden unterdrückt. Erst in jüngster Zeit gibt es zaghafte Veränderungen. Die Stele im Friedenspark macht Hoffnung.
Mein polyglott-on-tour-Reiseführer in aktualisierter Auflage 2003/ 2004 bietet mir in Sachen Friedensmuseum von Hiroshima einen Satz an, der mir schon aus der Zeit meines Korrespondentendaseins in Tokio vor zwanzig Jahren aus westdeutschem Munde zur Genüge bekannt ist: »Hinweise auf die Hintergründe für den Bombenabwurf gibt es keine.« Ich hatte schon damals meine Schwierigkeiten mit diesem Satz aus solchem Mund, weil mir der Meinungshauptstrom der Bundesrepublik in bezug auf Kriegswirkungen und deren Ursachen in Deutschland nun auch nicht gerade vorbildlich an Aufklärung interessiert zu sein schien. Sicher habe ich damals manchen meiner Kolleginnen und Kollegen Unrecht getan, weil sie zu diesem Meinungshauptstrom nicht gehörten und ihre Kritik an den japanischen Zuständen durchaus mit solcher an den Zuständen in ihrem Heimatland zu verbinden wußten. Heute aber ist dieser Satz – jedenfalls mit Blick auf Hiroshima – nicht nur fragwürdig, sondern gänzlich verfehlt. Natürlich gibt es im Friedensmuseum Informationen zu den strategischen Erwägungen, die die USA und die Sowjetunion nach dem Sieg über Deutschland in bezug auf den noch fortdauernden Krieg gegen Japan und auf ihre jeweilige Rolle in der Nachkriegswelt anstellten, natürlich gibt es den wichtigen Hinweis auf die in Potsdam von US-Präsident Truman getroffene Entscheidung, gegen Japan Atombomben einzusetzen, und das Friedensmuseum bietet heute auch – 1984 war das noch anders – sehr ausführliche Hinweise auf die Rolle Hiroshimas als bedeutender japanischer Rüstungsstandort wie auch auf die Rolle der in Hiroshima stationierten Militäreinheiten beim japanischen Feldzug gegen China 1932-1945 und im pazifischen Krieg gegen die USA 1941-1945. Wo ein Umdenken stattfindet, sollte es registriert werden.
Zumal das Umdenken in Deutschland ganz entgegengesetzter Art zu sein scheint. Hier wird Aufklärung nicht neu erworben, sondern lieber zugeschüttet. Die Frauenkirche in Dresden ist wieder aufgebaut, und mit wieviel Freude das viele auch erfüllen mag – diese Freude wird bezahlt mit der unwiederbringlichen Auslöschung eines Ortes der Geschichte, der wichtig war für diese Stadt und dieses Land. Ein Friedensmuseum am Ort des Geschehens, mit gründlicher Darstellung von Ursache und Wirkung – ist es konzipiert, wird es kommen, und wann und wo? Und das sinnliche Ganze eines aufs sorgfältigste konzipierten Friedensparks, geeignet für – wie in Hiroshima ununterbrochen zu erleben – täglich viele Dutzende Schulexkursionen: Will man das, plant man das? Oder versieht man solch friedenserzieherisches Handeln wie das japanische lieber mit dem in solchen Fällen so beliebten Beiwort »verordnet«?
Schon glauben nicht wenige, der Wiederaufbau der Frauenkirche in Dresden müsse mit dem Wiederaufbau der Garnisonkirche in Potsdam seine Fortsetzung finden, und sie setzen eifrig Spendensammlungen und »Überzeugungs«-Veranstaltungen in gang. Zur »Beruhigung« verkünden sie, das Militärische – und gar das Faschistische und Nationalsozialistische – sei ja nur ein kleiner Teil der Geschichte dieser Kirche gewesen, und den »Tag von Potsdam« 1933, von dem ja nun in selten klarer Weise eine ganz direkte Linie zur Zerstörung eben dieser Garnisonkirche beim Bombenangriff vom 15. April 1945 führt, solle man doch nicht »überbewerten«.
Kann es sein, daß man in Hiroshima ein großes Stück ehrlicher ist?
Schlagwörter: Wolfram Adolphi