Des Blättchens 7. Jahrgang (VII), Berlin, 2. August 2004, Heft 16

Antoine de Saint-Exupéry – der große Prinz

von Gerhard Wagner

Antoine-Marie-Roger de Saint-Exupéry kam vor sechzig Jahren, am 31. Juli 1944, bei einem Flug im Auftrag seiner alliierten Fernaufklärerstaffel über dem Mittelmeer, nahe Korsika, um. Es handelte sich um seinen letzten geplanten Aufklärungseinsatz.
Was Saint-Exupéry, als 1900 Geborener gleichsam ein Kind der Jahrhundertwende, innerhalb dieser rund vier Jahrzehnte an Erzählungen und Romanen, Reportagen, Essays und philosophischen Notizen hinterließ, kann im übertragenen Sinne ebenfalls als das Werk eines Aufklärers verstanden werden.
Denn es bietet keineswegs nur eine sinnestrunkene Philosophie der oft dramatischen fliegerischen Aktion. Gewiß feierte der langjährige Post-, Passagier- und Militärpilot, der Bewunderer von Luftfahrtpionieren wie Louis Blériot und Charles Lindbergh die heroische Tat. Doch er bewertete sie nach den Einsichten, die sie in Städte, Landschaften und Menschen, in die innere Verfassung der Epoche und ihrer Zeitgenossen vermittelte.
Denken und Tat – für den Flieger Saint-Exupéry hatten sie darum ihre Legitimation vor allem in der Parteinahme für »ein besseres Leben« da unten, das die von ihm kritisierten Formen der »liberalen Wirtschaftsordnung«, der »Scheindemokratie« und des »abgezirkelten« Glücks immer nur vorgaukelten. Überzeugt, daß der Selbstlauf nicht nur des technischen »Fortschritts« die Individuen zu atomisierten »Termiten« macht, versuchte dieser »Arbeiter des Himmels« – gleichsam auf archaischem Erkundungsflug, mit »tausend Jahren Kultur« als Aufwind –, die »alte Natur« des Menschen wiederzuentdecken und ihr zu neuer Resonanz zu verhelfen: die »Natur des Gärtners, des Seefahrers, des Dichters«. Bei der Überwindung der Naturunbilden und der Bändigung von tonnenschwerem, an sich »prosaischem« Fluggerät wird ihm sogar ein Gefühl von »säuglingshafter Zärtlichkeit« zwischen Natur, Mensch und Technik möglich.
Und sehnsuchtsvoll, »von einer einfachen Moral geleitet«, feiert dieser einsam philosophierende Schatzsucher in der Nachbarschaft der Sterne, was gemeinschaftsstiftend ist: die verantwortungsbewußte Arbeit und die Kameradschaft.
»Ich lebe von der Qualität meiner Kameraden«, lautet ein Bekenntnis im Roman Wind, Sand und Sterne (1939). Saint-Exupéry hatte dabei keine Ghettos kumpanenhafter Gefolgschaft im Auge, sondern die oft »heimlichen Gärten« der Solidarität. Sie waren eingefügt in die Utopie einer »differenzierten Gemeinschaft, eines durchorganisierten Daseins« auch nach dem Vorbild der modernen, arbeitsteilig-kooperativen Luftfahrt.
Die Enttäuschungen blieben nicht aus. Im August 1936 für die Tageszeitung L’Intransigeant (Der Unbeugsame) zwischen den Fronten in der heftig bekämpften republikanischen Hochburg Barcelona und bei
Lerida, im Bombenhagel auf Madrid unterwegs, stieß dieser noble, schweifende Geist von seinem »Beobachtungsposten« aus immer wieder schnell auch auf die vielen politischen, meist »unsichtbaren Grenzen« für wahrhafte Menschlichkeit: »Man erschießt hier, wie man Wälder abholzt.«
Die Flügelkämpfe der spanischen republikanischen Bewegungen, die Schwächen der auch mit kleinbürgerlich-liberalen Zielstellungen durchsetzten französischen Volksfrontaktivitäten, die Brutalität der faschistischen Kriegsführung, die sich verselbständigende, zu vielen »unheilbaren Wunden« in Europa führende »Krankheit« der Gewalt, auch die allgegenwärtige »grausame Einfalt« der Stalin-Ära ließen ihn tief resignieren und sogar dem aufklärerischen Ideal der radikalen Demokratie mißtrauen.
Sein vorletzter Brief, den er am 30. oder 31. Juli 1944 an Pierre Dalloz, einen der Führer der französischen Résistance, richtete, belegt Haß schon auf die künftigen opportunistischen »Termitenhaufen« mit ihrer sterilen »Robotertugend«.
Im selben Jahr 1936, da die Reportageserie Blutendes Spanien entstand, begann Saint-Exupéry mit den Aufzeichnungen zu dem Roman Die Stadt in der Wüste (1948).
Diese Fragmente bilden eine zwiespältige Mischung aus Monologen eines Berberfürsten: Aufklärerisch-humanitätsphilosophische Meditationen wechseln sich ab mit patriarchalisch-erziehungsdiktatorischen, die traditionelle Ideen des »aufgeklärten« Monarchismus elitär zuspitzen.
Seine Vision der »universalen Liebe« konnte Saint-Exupéry erst wieder mit dem modernen philosophisch-soziologischen Märchen Der kleine Prinz (1943) retten und poetisch überzeugend vermitteln. Es gehört wie seine großen romanhaften Essays und Reportagen zu jenen im besten Sinne aufklärerischen Texten, die über das Individuelle hinaus gleichnishaft von der friedlichen Auseinandersetzung des Menschen mit seiner Welt handeln. Und so mahnen, über dem sogenannten Machbaren nicht das Fühl- und Denkbare, über den Zwängen purer Verwertungs-, Verwaltungs- und Herrschaftsrationalität nie das »Menschenmaß« zu verlieren.