Des Blättchens 7. Jahrgang (VII), Berlin, 5. Juli 2004, Heft 14

Mühsam

von Hermann-Peter Eberlein

Sie wollten, daß es wie ein Selbstmord aussehe. Und entsprechend redete der Völkische Beobachter zynisch von einer »späten Selbsthinrichtung«. Dabei konnte der Mann, den Mitgefangene am Morgen des 10. Juli 1934 auf einem Abort des KZ Oranienburg erhängt auffanden, den Knoten seines Stricks gar nicht selbst befestigt haben: Seine Finger waren gebrochen worden, über die anderthalb Jahre seiner Haft immer wieder und systematisch, um ihn am Schreiben zu hindern. Erich Mühsam war Schriftsteller.
Einer der bestgehaßten im Naziregime. Mühsam bediente in seiner einen Person so ziemlich alle Feindbilder, die sich die braunen Ideologen und spießig-dumpfe Volksgenossen zurechtgebastelt hatten: Jude, Intellektueller, Freigeist, Kosmopolit, Pazifist, Bohemien, Anarchist, Libertin, Revolutionär. Am 6. April 1878 in Berlin geboren und aufgewachsen in Lübeck, lebt er nach der Jahrhundertwende als Schriftsteller und Kabarettist in Berlin, Wien, Paris, Italien und der Schweiz, ist zeitweise Mitglied der Schwabinger Bohème um Fanny Reventlow und Karl Wolfskehl, Max Halbe und Frank Wedekind. Im Ersten Weltkrieg nähert er sich dem Spartakusbund an, wird im November 1918 führendes Mitglied im Münchner Revolutionären Arbeiterrat und ist am 7. April 1919 in erheblichem Maße an der Gründung der anarchistischen Räterepublik beteiligt. Sechs Tage später verhaftet, verbringt er die folgenden Jahre in Festungshaft, wird 1924 auf Bewährung entlassen und lebt seither als Schriftsteller, antifaschistischer Publizist, Herausgeber einer eigenen Zeitschrift (Fanal) und künstlerischer Berater der Piscator-Bühne in Berlin; fast ein Vierteljahrhundert arbeitet er an der Weltbühne mit. Nach der Machtergreifung besiegelt ein Tag sein Schicksal: Am Vorabend seiner Flucht aus Deutschland – die Fahrkarten sind gekauft, die Koffer gepackt –, am 28. Februar 1933, wird Mühsam im Rahmen einer Massenaktion verhaftet. Es folgen ein Martyrium in einem halben Dutzend Gefängnissen und Konzentrationslagern, Ermordung – und ein Begräbnis auf dem Dahlemer Waldfriedhof. Ihn einfach zu verscharren, war angesichts seiner Bekanntheit im zweiten Jahr der Nazi-Herrschaft offenbar noch genauso wenig möglich, wie ihn »offiziell« zu töten.
Mühsams Witwe Kreszentia verkauft seinen Nachlaß 1936 an das Maxim-Gorki-Institut in Moskau; sie selbst verbringt fast zwei Jahrzehnte in russischen Straf- und Internierungslagern. Erst drei Jahre nach Stalins Tod kann sie nach Berlin zurückkehren, wo sie 1962 stirbt. In der DDR erfährt der nichtkommunistische Antifaschist Mühsam immerhin eine gewisse Würdigung: Straßen werden nach ihm benannt, seine Schriften ediert. Die Adenauerrepublik hingegen schweigt ihn tot, erst nach 1968 kommt es zu einer verstärkten Rezeption. Heute kümmert sich die Erich-Mühsam-Gesellschaft mit Sitz in Lübeck um sein Erbe, verantwortet eine Schriftenreihe und ein Magazin und verleiht alle zwei Jahre einen nach ihm benannten Preis.
Die Aktivitäten anläßlich des siebzigsten Jahrestages der Ermordung Mühsams hingegen sind eher bescheiden – vermutlich will man das wichtigere Gedenkjahr 2009 abwarten. Im Februar und März konnte man im Archivgebäude der Berliner Akademie der Künste eine Ausstellung von Bildern, Manuskripten und Erstausgaben unter dem Titel Sich fügen heißt lügen sehen; drei Tage lang (noch bis zum 3. Juli) präsentiert das Münchner Weber-Herzog-Musiktheater im Berliner Hackeschen Hoftheater ein Mühsam-Programm mit dem Titel Grinsend glotzt der dicke Mond mich an; Lesungen und Lieder wird es noch einmal in Potsdam am 9. September (Der Buchladen, 20 Uhr) und am 16. September in Magdeburg (Literaturhaus, 19 Uhr) geben. Bereits 2003 wurde am Haus Alt-Lietzow 12 in Berlin-Charlottenburg eine Gedenktafel für Mühsam enthüllt. Und immer wieder folgen Verehrer(innen) der Aufforderung des Lebenskünstlers, über seinem Grab (das mittlerweile zum Ehrengrab erklärt worden ist) Rotwein zu trinken.
Die für breite Kreise vielleicht schönste Hommage an den »Prototyp eines Caféhausliteraten« aber ist eine wohlfeile Neuausgabe seiner Unpolitischen Erinnerungen im vorigen Jahr. Ursprünglich zwischen 1927 und 1929 als Auftragsarbeiten in der Vossischen Zeitung erschienen, bieten sie ein lebendiges Panorama der Bohème im ersten Jahrzehnt des zwanzigsten Jahrhunderts – mit ihren Zentren München, Wien, Berlin zugleich Brutstätte der Moderne zwischen Naturalismus und Dekadenz, Impressionismus und Jugendstil – und wundervolle Künstlerportraits von Peter Altenberg bis Stefan George, Edvard Munch bis Egon Friedell. Dabei betreibt Mühsam beileibe keine Sensationshascherei – die man angesichts der genügsam bezeugten sexuellen Libertinage in seinem Kreis durchaus hätte erwarten dürfen –, sondern betont die Einheit von individueller Freiheit und sozialer Gesinnung gerade unter Künstlern: »so haben wir beispielgebend gelebt und … der nächsten Generation vorgemacht, dass es möglich ist, in Verbundenheit frei zu sein, sie damit gemahnt, Zustände zu schaffen, in denen die Freiheit nicht das Vorrecht einiger um ihren Ruf unbesorgter Künstlermenschen zu sein braucht, sondern die Lebensform der Verbundenheit aller Menschen«.
Darum ist der Mühsam der Unpolitischen Erinnerungen auch nur vordergründig harmlos. Und selbst Neuausgaben etwa seiner frühen Abhandlung über die Homosexualität von 1903, der letzten Kampfschrift über Die Befreiung der Gesellschaft vom Staat (1932) oder des wieder höchst aktuellen Stücks Ein Denkmal für Sacco und Vanzetti über US-Justizmorde (1928) bewegten heute politisch wohl nicht mehr als dieses Gelegenheitswerk. Das liegt nicht am Autor, sondern ist typisch für eine »postmoderne« geistige Landschaft, in der nichts mehr aufregt, weil alles egal ist. Aber auch diese Zeiten werden ein Ende haben – und dann wird Mühsam wieder Biß bekommen. Bis dahin ist es vielleicht nicht das Schlechteste, sich mit den Skizzen aus der Bohème auf den Nährboden jener freien und radikalen individualistischen Intellektualität führen zu lassen, die wohl unsere beste kulturelle Tradition darstellt und die allein den Keim zur Überwindung einer globalen Massenverdummung in sich birgt. »Ich schöpfe aus meinen unpolitischen Erinnerungen, und ich finde in ihnen Freude und Kampf und die Unbefangenheit zu leben, wie es lebendigen Geistern geziemt. War ich früher den wenigen verbündet, die der Menschheit vorausliefen zu einer frohen Welt, so will ich auch den vielen verbündet bleiben, die die Not lehrt, dass eine frohe Welt erkämpft werden muß, eine Welt, in der wieder Freude und Lachen Raum hat, aber nicht als das Vorrecht rebellierender Außenseiter, sondern als Inhalt des Lebens und der befreiten Menschheit.« Dieser Lebenskultur hat Mühsam sein Leben geweiht, für sie hat er vor siebzig Jahren mit seinem Leben bezahlt: darin liegt seine menschliche Größe. Denn: Opfer sein adelt.

Erich Mühsam: Unpolitische Erinnerungen, Aufbau-Taschenbuch-Verlag Berlin 2003, 244 Seiten, 8,50 Euro.

 

Erziehung

von Erich Mühsam

Der Vater zu dem Sohne spricht:
Zum Herz- und Seelengleichgewicht,
zur inneren Zufriedenheit
und äußeren Behaglichkeit
und zur geregelten Verdauung
bedarf es einer Weltanschauung.
Mein Sohn, du bist nun alt genug.
Das Leben macht den Menschen klug,
die Klugheit macht den Menschen reich,
der Reichtum macht uns Herrschern gleich,
und herrschen juckt uns in den Knöcheln
von Kindesbein bis zum Verröcheln.
Und sprichst du: Vater, es ist schwer.
Wo nehm ich Geld und Reichtum her?
So merk: Sei deines Nächsten Gast!
Pump von ihm, was du nötig hast.
Sei’s selbst sein letzter Kerzenstumpen –
besinn dich nicht, auch den zu pumpen.
Vom Pumpen lebt die ganze Welt.
Glück ist und Ruhm auf Pump gestellt.
Der Reiche pumpt den Armen aus,
vom Armen pumpt auch noch die Laus,
und drängst du dich nicht früh zur Krippe,
das Fell zieht man dir vom Gerippe.
Drum pump, mein Sohn, und pumpe dreist!
Pump andrer Ehr, pump andrer Geist.
Was andere schufen, nenne dein!
Was andere haben, steck dir ein!
Greif zu, greif zu! Gott wird’s dir lohnen.
Hoch wirst du ob der Menschheit thronen!