Des Blättchens 7. Jahrgang (VII), Berlin, 5. Juli 2004, Heft 14

Kreuzberger Nächte

von Thomas Heubner

Nach den Gesetzen der Aerodynamik dürfte die Hummel nicht fliegen. Zum Glück kennt die Hummel diesen Codex nicht und schwirrt fröhlich in der Sommersonne. Gleichzeitig präsentiert uns Sozialsenatorin Heidi Knake-Werner – das ist die mit dem rosafarbenen Parteibuch in der Tasche, ihrem dritten übrigens, das sie bekanntlich kurz nach ihrer Amtsübernahme vor der Teilnahme an einer Friedensdemo schützte – einen »Sozialstrukturatlas« der Hauptstadt. Darin untersuchen Soziologen den Sozial- und Status-Index in den Berliner Bezirken und Quartieren, also den Anteil von Arbeitslosen und Sozialhilfeempfängern, den Bildungsstand, die Altersstruktur und so weiter. Außerdem beschreiben sie die entsprechende Lebenslage, nicht das Lebensgefühl. Ähnlich wie beim modischen Wetterbericht, wo kurioserweise zwischen tatsächlicher und gefühlter Temperatur unterschieden wird.
Und man kommt zu der bemerkenswerten Einsicht, daß in Berlin die Schere zwischen Arm und Reich immer schneller und weiter auseinanderklafft. Über eine halbe Million Menschen lebt unterhalb der Armutsgrenze von 608 Euro netto im Monat, also jeder sechste, in Kreuzberg sogar jeder vierte. Hier ist auch die durchschnittliche Lebenserwartung um fünf Jahre kürzer als im benachbarten Treptow. Zudem haben wir in Kreuzberg den höchsten Anteil an Arbeitslosen und Sozialhilfeempfängern, dafür aber das niedrigste Pro-Kopf-Einkommen.
So weit, so schlecht. Es geht auch anders in Deutschland. Unser Mitbürger Josef Ackermann, der sich durch mutige Ideen beim Verscherbeln von Konzernen auszeichnet, verdient jährlich rund elf Millionen Euro. Das sind – großzügig alle Tage des Jahres mit acht Arbeitsstunden gerechnet – 30000 Euro täglich. Von diesem 3700-Euro-Stundenlohn könnten sechs Berliner Sozialhilfeempfänger einen ganzen Monat leben. Oder Pleitier Landowsky mit seinen rund 20000 Euro monatlichem Ruhegeld. Haben er und seinesgleichen jemals bei der Stromrechnung der BEWAG gestutzt? Stieß ihnen die Magensäure auf, als dieses Jahr der Wasserpreis um fünfzehn Prozent erhöht wurde? Kam ihnen das große Würgen, als sie ihre aktuelle Betriebkostenabrechnung und den neuen Mietpreis lasen? Erfanden die den Begriff von Kindern als »Armutsrisiko«? Natürlich nicht. Doch darüber öffentlich zu befinden, gilt allgemein als unschicklich, denn das sei eine unfeine Neiddiskussion.
Daß allerdings die wonnetrunkenen Berliner in Alt-Gatow und die bedauernswertesten ausgerechnet zwischen Görlitzer und Viktoriapark wohnen sollen, macht doch ein bißchen baff. Dies suggeriert besagter Sozialatlas nämlich gleichfalls, wo dreihundert Kieze in einer Rangliste ordentlich aufgereiht werden, Ranking genannt.
Dort dümpeln Kreuzbergs Quartiere traurig und abgeschlagen unter den letzten vierzig Plätzen. Vom Viktoriapark über Zossener Straße, Südstern bis Mariannenplatz reicht man sich weinend die rote Laterne weiter. Im Würgegriff des Elends trainieren wir Kellerkinder fleißig die unerträgliche Leichtigkeit des Seins: gehen stempeln in die Charlotten- und shoppen in die Bergmannstraße, schlürfen unser Bier im Golgatha, nippen Kaffee am Moritzplatz, stänkern gegen die Privatisierung von Häusern und Wohnungen im Walde-Kiez.
Die Leidensfähigkeit ist in Kreuzberg größer als in Dahlem. Nur in einem gehören wir zur Berliner Spitze: Hier in Kreuzberg haben wir fast den höchsten Anteil von Akademikern. Vielleicht liegt es also an der hiesigen Vergeistigung, daß wir selbst nicht mehr wahrnehmen, wie nur noch tote Seelen durch unseren Kiez vagabundieren. Nach den Auskünften des Berliner Sozialatlasses jedenfalls dürften kaum noch Vernünftige und Tüchtige in Kreuzberg leben. Aber zum Glück kennen wir Kreuzberger unseren Status-Index nicht.