von Jörn Schütrumpf
Was auch geschieht –
nie sollt ihr so tief sinken,
von dem Kakao, durch den man Euch zieht,
auch noch zu trinken.
(Erich Kästner)
Zu den bleibenden Kulturtaten, die während des Anschlusses an die Bundesrepublik vollbracht wurden, darf ohne Zweifel die Abwicklung der DDR-Intelligenz gezählt werden, bei der ohne Einzelfallprüfung Gegnerschaft zur Ausbeutung des Menschen durch den Menschen gemutmaßt wurde; zumeist wohl zu Recht. Anders als 1933 ff. und 1972 ff. gelang es dabei weitgehend, auf rechtsverbindliche Berufsverbote zu verzichten. Statt dessen wurde erfolgreich auf eine – nicht immer nur pseudowissenschaftliche – Evaluierung sowie auf die Zerstörung von großen Einrichtungen wie der Rundfunk- und Fernsehsender und der Akademie der Wissenschaften gesetzt. Die in Deutschland so sehr bewährte Gesinnungsschnüffelei samt Schwarzen Listen hingegen kam höchstens begleitend zur Anwendung; sieht man einmal vom Sächsischen ab, wo man es im vergangenen Jahrhundert auch bei den Regimewechseln zuvor als besonders stramm aufzufallen verstanden hatte.
Diese Art von Elite-Ausschaltung hatte vielerlei Vorteil. Sie war, und das ist in einem Rechtsstaat besonders wichtig, juristisch weit weniger anfechtbar als das Berufsverbot, das zudem mit dem Nachteil behaftet ist, daß viele Opfer etwa zeitgleich unter existentiellen Druck geraten und dadurch auf den Gedanken zu gemeinschaftlicher und rechtsstaatsschädigender Tat verfallen können.
Bei der Abwicklung hingegen ließ sich immer wieder nachsteuern – bis hin zur Feinjustierung. Wurde einmal die Unruhe zu groß, konnte Geld »angefaßt« und das eine oder andere Wissenschaftler-Integrations-Programm ein wenig verlängert werden; natürlich nicht für alle – das Ziel blieb schließlich die Abwicklung. Danach ging’s in die Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen, es folgten die Strukturanpassungsmaßnahmen, anschließend die Arbeitslosenhilfe. Falls der Ehe-Partner immer noch irgendeine Arbeit sein eigen nennt und trotzdem noch nicht aus dem Haushalt geflüchtet ist, haben sich ab 1. Januar nächstes Jahres auch diese und alle anderen Bezüge erledigt.
Dazwischen keimten immer wieder Hoffnungen, daß die Einschläge nur rechts und links niedergehen würden – bei Hundertausenden war das so, und das sollte auch so sein. Stück für Stück wurde die DDR-Intelligenz zerspant; beinahe lautlos; der Rechtsstaat sollte ja nicht beschädigt werden. Den einzigen Widerstand signalisierte manchmal ein Wahlergebnis – das Wahlrecht für die Ossis unter 65 Jahre ist eben einer der eklatanten Mängel des Einigungsvertrages gewesen; gerade hier hätte es einer Übergangsfrist, fünfzig oder auch zehn Jahre weniger, bis zur Einführung des Wahlalters mit 18 bedurft.
Ließ es sich einmal nicht ganz vermeiden, das Vorhandensein dieser Art Abwicklung einzuräumen, wurde, vor allem in den frühen neunziger Jahren, das Versagen der eigenen Vätergeneration nach 1945 als Begründung aufgerufen: Entgegen ihrem Willen hätten diese verabsäumt, die Nazis dauerhaft zu entmachten, und so etwas solle dieses Mal nicht wieder geschehen. Schließlich habe das deutsche Volk aus seiner Geschichte gelernt.
In der Tat waren auf dem Gebiet Westdeutschlands nach 1951 im Öffentlichen Dienst – von der Volksbildung über Justiz, Polizei und Geheimdienste bis hin zu Forschung und Lehre – dank des Gesetzes 131 mehr Pgs tätig als in »großer Zeit«; viele der mittel- und ostdeutschen NSDAP-Mitglieder hatten schließlich auch untergebracht werden wollen. Daß mit solchem Personal der Aufbau eines ganz ordentlich funktionierenden parlamentarischen Systems möglich war, deutet auf … ja, worauf deutet das?
An den Eigentumsverhältnissen zumindest hatten sich die Nazis nicht vergangen – sieht man einmal von den Eigentumsverhältnissen der Juden ab. Und ansonsten hatten »alle nur ihre Pflicht getan«. Insofern war doch alles korrekt verlaufen nach 1951: Fleisch vom Fleische.
Ganz anders lag die Sache im Osten. Das einzige, was es an diesem Sozialismus aus Sicht der Sieger im Kalten Krieg nicht zu kritisieren gab, war, daß er so schlecht gemacht worden war. Aber ansonsten? Allen war alles weggenommen worden, vor allem den Leistungsträgern, ohne die Deutschland nun mal keine Zukunft haben könne. Das ist schwerer zu tolerieren als sechs Millionen Juden – auch wenn das bisher so noch niemand gesagt hat; es reicht, daß es so praktiziert wurde.
Sehr überrascht hatte es mich im übrigen nicht, daß allen »unsicheren Kantonisten« nach der Wende der Stuhl unter dem Gesäß weggezogen wurde – mit der Begründung: Weil sich im Westen nach dem Krieg die Volksgemeinschaft schnell wieder gefunden und in Wiederaufbau und Wiederbewaffnung geübt hatte, statt Buße zu tun, müsse das jetzt »besser« gemacht werden. Womit ich so nicht gerechnet hatte, waren eher die Details der diversen Dummfrechheiten sowie die Geschwindigkeit der Gleichschaltung und, mehr noch, die der Selbstgleichschaltung.
In jüngster Zeit ist allerdings eine wirkliche Überraschung hinzugekommen: jene zweifellos wohlmeinenden Linken aus dem Osten, mit einigen Alliierten im Westen, die glauben, den Schmus mit den zu gut behandelten Nazis aufnehmen und umdrehen zu müssen. Was mir in den vergangenen Monaten an Texten und auch an Einladungen zu entsprechenden »Projekten« auf den Tisch gelangt ist, macht sprachlos und traurig – auch wenn ich die Verzweifelung vieler Kollegen verstehen kann; siehe oben.
So sehr ich mich mit dem Anliegen, den Abgewickelten eine Chance einzuräumen, solidarisiere, kann ich für meinen Teil zu der Forderung, daß man die gezielt deklassierten Ossis so behandeln möge, wie es im Westen ab 1951 mit den Nazis geschah, nur sagen: Ich war kein Nazi, und deshalb steht mir auch nicht das Privileg zu, wie ein Nazi behandelt zu werden. Ich bin nicht Fleisch vom Fleische.
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