Des Blättchens 7. Jahrgang (VII), Berlin, 5. Juli 2004, Heft 14

Blühende Landschaften

von Wladislaw Hedeler, z.Z. Karaganda

Zuerst blühen in der Steppe die Maiglöckchen, dann folgen die Tulpen und der Mohn. Anfang Juni sind Gelb und Violett die vorherrschenden Farben entlang der staubtrockenen Straßen. Es riecht bitter, ein Hauch Wermut liegt in der Luft. Wenn Wind aufkommt und durch das silberfarbene Federgras fegt, glaubt man, verschneite Flächen vor sich zu haben. Zwischen kleinen roten, weißen und gelben im Gras versteckten Blüten, den Hagebutten-, Geißblatt- und Berberitzesträuchern und den der Hitze widerstehenden Disteln ragen bereits vertrocknete Blütenstände in die Höhe. Die immer wieder im Gras zu sehenden Blüten erinnern entfernt an die von Schleierkraut, Klee und Sumpfdotterblumen. Nur sind die Farben leuchtender und die Blüten größer als hierzulande. Innerhalb eines Monats werden auch sie verdorrt sein. Im Juli färben sich das kniehoch aufragende Gras und die Sträucher braun. Das Geröll tritt deutlicher hervor, zwischen dem sich einige Grasinseln halten.
Nur entlang des sich durch die Steppe windenden Flusses Scherubaj-Nura und der intakten Bewässerungsgräben zwischen dem Stausee von Topar und dem Sassykkol-See bleibt es länger grün. Auf den von Pappeln gesäumten Feldern zwischen Koksun und Dshon sind Bewässerungsmaschinen im Einsatz. Raupenschlepper mit gewaltigen Auslegern bewegen sich langsam entlang der Wassergräben. Eine Pumpe saugt das Wasser aus den Gräben an, drückt es in die Leitungen der Ausleger und versprüht es über den Furchen. Durch die sie umgebende, in der Sonne glitzernde Wasserwolke, die einem Ufo ähnelt, sind diese Maschinen schon von Ferne auszumachen. Über der Fahrerkabine sprüht das Wasser am höchsten auf. Das hierfür benötigte Wasser gelangt mit Hilfe eines in den einstigen Produktionsabteilungen des kasachischen Gulags ausgeklügelten Systems von Gräben und Schleusen auf das richtige Feld. Im Unterschied zu den Bewässerungsanlagen in Samarka sind die Schleusen um Kornak noch voll funktionsfähig.
An den Zuflüssen sitzen Angler, in den Hauptkanälen baden Kinder. Ab und zu ziehen Herden klappriger Rinder, Pferde oder Schafe vorbei. Die Hirten haben es nicht eilig. Einige Dörfer sind in den vorigen Jahren aufgegeben worden. Nur im Sommer werden die noch vorhandenen Viehställe genutzt. Die Wege zu ihnen sind bei Regenwetter unpassierbar, immer wieder stürzt ein aus Lehmziegeln errichteter Stall ein. Südlich der Straße, die Dolinka mit Schachtinsk verbindet, gibt es einige solcher verlassenen Siedlungen.
Die Ortschaften Espe und die Grünen Quellen gehören dazu. Wer nach stundenlanger Irrfahrt endlich sein Ziel erreicht (auch für Kasachstan gilt, daß es in solchen Regionen keine Straßen, sondern nur Richtungen gibt), hat das Gefühl, bei einem »Häuserkampfobjekt« auf einem Truppenübungsplatz angelangt zu sein – sozusagen einem »landwirtschaftlichen Gegenstück« zu Andrej Tarkowskis mysteriöser Industrie-Zone aus dem Film Stalker. Hier in der Steppe hat die Apokalypse bereits stattgefunden. Was hier scheiterte, war nicht die Zivilisation, sondern ein jahrzehntelang herrschendes Zwangsarbeitssystem.
Die Obstbäume sind längst abgehackt und die Ortsschilder abmontiert und zum Abdecken der im Sommer genutzten Viehställe verwendet worden. Was an Obst und Gemüse eigentlich hier in Espe hätte reifen sollen, leuchtet auf den Märkten in Karaganda unter den Sonnendächern in allen Farben – und kommt mittlerweile aus Südkasachstan, wo es noch wärmer ist, es gibt Süßkirschen, aromatisch duftende Äpfel aus Almaty und kleine gelbe Aprikosen aus Tschimkent. Außerdem werden Kartoffeln, Gurken, Tomaten und Auberginen angeboten, die hier preiswerter zu haben sind als in der Stadt. Die Gerüche mischen sich mit denen von Dörrfisch, Chalwa, Trockenobst und geräuchertem Speck. Es gibt Schaschlik, warmes Fladenbrot, Plow, Nudelsuppen, diverse Salate und grünen Tee.