Des Blättchens 7. Jahrgang (VII), Berlin, 21. Juni 2004, Heft 13

Neue Gegenwinde

von Erhard Crome

Man ist konsterniert: Zum Thema »Regierungswechsel in Indien« war in den großen deutschen Zeitungen kaum ein Artikel zu lesen, in dem nicht von den »großen Leistungen« des Wahlverlierers Vajpayee die Rede gewesen wäre. Hatte dieser doch die Wirtschaft »liberalisiert« und dem ausländischen Kapital geöffnet. Beides gilt per se als »gut«. Wie viele Bauernfamilien derweil von ihren kleinen Äckern vertrieben wurden, wie viele der – dann ehemaligen – Bauern sich deshalb das Leben nahmen, während ihre Familien jetzt ein trostloses Dasein auf den Straßen der großen Städte fristen, davon ist nicht die Rede. Auch nicht von sinkenden Grundwasserspiegeln im Gefolge von Industrieansiedlungen in Indien, hier etwa Coca Cola, oder von Verunreinigungen der Flüsse durch die Chemieindustrie.
Die Kongreßpartei indessen, die jetzt wieder die Parlamentswahlen gewonnen hat, wurde als antiquiert und unzeitgemäß abqualifiziert. Die Herren in Washington – die der neoliberalen wirtschaftlichen Weltordnung und die der US-amerikanischen politischen Imperialordnung – erinnerten sich gewiß daran, daß es die Kongreßpartei war, die unter Nehru und Indira Gandhi versucht hatte, Indien wirtschaftlich einen eigenen Entwicklungsweg zu eröffnen und sich auch außenpolitisch mit der Nichtpaktgebundenheit von den globalstrategischen Planungen der USA fernzuhalten. Es sind die neuen Realitäten in der Welt, die den Selbstbeweihräucherungen der neoliberalen Ideologen entgegenstehen.
Nehmen wir ein anderes Beispiel aus dem Süden: den Bericht einer großen deutschen Zeitung – welcher, ist angesichts der Gleichschaltung im neoliberalen Mainstream ohnehin egal ñ über kontroverse politische Auseinandersetzungen im Argentinien unserer Tage. Zur Erinnerung: Argentinien war unter der Präsidentschaft des Carlos Menem zu einem Musterland marktradikaler Wirtschaftsstrategie gemacht worden. Der Wechselkurs des Peso wurde an den US-Dollar gebunden, um die Inflation zu beenden; die Staatsunternehmen wurden privatisiert, und der Kapitalverkehr wurde, um ausländische Investoren anzulocken, »liberalisiert«. An der Jahreswende 2001/2002 brach dieses System zusammen, Massenproteste brachten das Land an den Rand des politischen Chaosí, während dreizehn Tagen wurden vier Präsidenten verbraucht. Am Ende wurde in Neuwahlen der kaum bekannte Nestor Kirchner zum neuen Präsidenten gewählt, die Lage entspannte sich weitgehend.
In dem erwähnten Zeitungsbericht nun wurde mitgeteilt, daß in Buenos Aires ein »Dialog« angesagt war zwischen den wirtschaftlich Mächtigen aus Übersee und ihren Widersachern. Die »Herren der Energierechnung«, so der Bericht, hätten sich »zur Verfügung gestellt, um den Verbrauchern zu erklären, warum Strom und Gas demnächst teurer werden sollten. Es waren Repräsentanten von Konzernen wie Repsol (Spanien), Total (Frankreich) und Wintershall (Deutschland), die in den neunziger Jahren, dank der umstrittenen Privatisierungen unter Präsident Carlos Menem, die Kontrolle über Argentiniens Erdöl- und Erdgasreserven gewonnen hatten.« Die »seriösen Männer in grauen Anzügen« mit Notizblöcken, Bleistiften und Gläsern mit Mineralwasser waren angetreten, »um einem feindseligen Publikum Rede und Antwort zu stehen«.
Suggeriert wird, es würden sich hier gleiche Vertragspartner gegenüberstehen, die frei sind in ihren wirtschaftlichen Entscheidungen – und nicht auf der einen Seite Profiteure aus Übersee und auf der anderen eine darbende Bevölkerung, die im Winter auf Heizung angewiesen ist. Da die Betroffenen wissen, wie ihre Lage ist, reagierten sie auf unerhörte Weise. Die »Gewerkschafter und Verbrauchervertreter« seien an Fragen und Antworten nicht tatsächlich interessiert gewesen, heißt es in der deutschen Zeitung. Was wunder, stand die Antwort doch schon vorher fest: Preiserhöhung! Statt dessen hätten die Betroffenen »mit Methoden, die an den Schabernack deutscher Studenten von 1968 erinnerten« (auch das also inzwischen ein Schimpfwort in deutschen Gazetten!), die Veranstaltung gesprengt. »Die Verbraucher-Anwältin Isabel Novosad griff hohnlachend nach Mineralwasserflaschen und entleerte sie über den Köpfen entgeisterter Energiebosse, ein Gewerkschafter setzte sich rücklings auf den Vorstandstisch und rief: ›Zeigen wir ihnen unsere Ärsche!‹«
Die Zeitung kommentiert dies mit dem Satz: »Es war ein Kollaps der politischen Sitten, nicht untypisch für den Zustand der argentinischen Demokratie nach einem Jahr unter dem peronistischen Präsidenten Nestor Kirchner.« Dieser Satz setzt erstens auf das Vergessen in der Medien-gesellschaft: Nicht der durch IWF– und Weltbank-Diktat herbeigeführte Kollaps ist schuld an der Situation in Argentinien, sondern der hernach gewählte Präsident, der sich diesem Diktat zu widersetzen sucht. Und zweitens: Demokratie ist gefährlich, wenn sie einem politischen Willen Raum gibt, der nicht in Einklang mit dem neoliberalen Programm steht.
Genau dies aber ist es, worum es geht. Das Programm des Neoliberalismus richtete und richtet sich nicht nur gegen jede Art neuerlichen sozialistischen »Experiments« – wofür nach dem Fiasko des kommunistischen Realsozialismus ja einiges zu sprechen schien – und gegen den sozialdemokratischen Wohlfahrtsstaat westeuropäischen Zuschnitts, sondern auch gegen den Entwicklungsstaat im Süden. Der Staat soll dort gestalterisch schwach und lediglich auf seine Polizeifunktion beschränkt sein, um dem internationalen Kapital die Büttel zum Eintreiben der Rendite zu geben. Die jüngsten Entwicklungen in Argentinien wie in Indien aber weisen darauf hin, daß der Staat als Schutzmacht eigener, nationaler Entwicklung wiederentdeckt wird. Während es in Europa die Sozialdemokraten sind, die den von ihnen einst geschaffenen Sozialstaat zu demolieren bemüht sind, finden sich in Ländern des Südens wieder mehrheitsfähige politische Kräfte, die sagen: Kampf gegen den Neoliberalismus hat Sinn. Bleibt abzuwarten, wie lange sie das durchhalten.
Es ist dies der Kontext, in dem auch über Lulas Brasilien nachzudenken ist. Angesichts der mittlerweile fast anderthalbjährigen Präsidentschaft mehren sich die Texte, die ihm Versagen, Kapitulation vor den alten herrschenden Klassen und mangelnde Konsequenz vorwerfen. Tatsächlich verfügt seine Partei, die PT, im brasilianischen Parlament aber nicht über eine eigene Mehrheit, sondern regiert in einer breiten Koalition, die auch bürgerliche Parteien einschließt. Lulas Politik zielt darauf, unter den gegebenen Bedingungen einen Kollaps, wie in Argentinien, zu vermeiden, um unter den obwaltenden Umständen – zu denen auch IWF und Weltbank gehören – die politischen Spielräume schrittweise zu vergrößern und das eigene wirtschaftliche Potential des Landes zu erhalten. Insofern ist er eher diesem Typus neuer national-orientierter Politiker zuzuordnen, als daß er eine »linke Alternative« eröffnen könnte. Zudem gibt es einen gewichtigen Unterschied: Indien wird, wie China, in 25 Jahren einen Anteil an der Weltproduktion haben, der über dem der USA oder der EU liegt, also ein »Global Player« sein. Brasilien und Argentinien dagegen sind den Verwerfungen der weltwirtschaftlichen Entwicklung stärker ausgesetzt. Insofern ist vielleicht gerade Lulas kürzlicher Besuch in China bedeutsam: Es ist der Versuch, eigenständige Verbindungen »im Süden« zu schaffen, die nicht durch die nordatlantische Welt des »weißen Mannes« kontrolliert werden.